Der Weizen ist reif. Mitten im Winter. Mitten zur Nacht. Zur eiskalten Nacht. Nur für wenige Minuten. Vielleicht eine halbe Stunde. Mehr nicht. Dann welkt der Weizen. Ohne Gnade. Ohne Einsehen. Ohne Rücksichtnahme. Ein Bauernhof ist immer eine Verpflichtung. Morgens. Mittags. Abends. Nachts. Bei Sonnenschein, im Regenschauer oder während eines Schneesturms. Der Weizen muss geerntet werden. Nicht nur in der realen, sondern auch in der virtuellen Welt. Nicht im Ösling, sondern in Farmville. Jenem putzigen Bauernhof im Internet, der die Landwirtschaft zum Zeitvertreib werden lässt – ein Spiel, in dem es gilt, Obst und Gemüse anzubauen, Tiere zu hegen und pflegen, ein stattliches Anwesen zu errichten, dann hin und wieder Mitspieler auf ihren Farmen zu besuchen, um ihnen den Weizen zu düngen oder die Kühe zu streicheln. Farmville ist ein so genanntes Browserspiel: Man braucht keine eigene Software auf seinem Rechner zu installieren. Das Spiel läuft im Internet. Es reicht aus, sich auf einer Games-Plattform einen Spiele-Account anzulegen und schon ist man mitten im Spiel. Oder mitten auf dem Farmville-Acker. Mal eben zwischendurch, in der Kaffeepause auf der Arbeit, in der Werbeunterbrechung vom Fernsehprogramm.
Mein virtueller Bauernhof auf Farmville als Selbstversuch: Ich surfe an einem Winterabend die Plattform des Farmville-Betreibers Zynga an. Die Anmeldung sieht unkompliziert aus. Zunächst. Geht dann jedoch mit einer Abfrage nach E-Mail-Adresse und Facebook-Profilinformationen einher. Ja, Zynga startete seinerzeit auf Facebook und ist auch heute noch eng mit dem sozialen Netzwerk verwoben. Ohne Facebook-Account keine Farm. Hat man dieses Procedere durchstanden, sieht man sich als blond gelockte Comicfigur durch die Prärie fahren, um eine alte Farm zu übernehmen. Marie, irgendeine Freundin aus alten Tagen, reitet vorbei und bietet Hilfe an. Klasse. Im wahren Leben kenne ich diese Marie nicht und auch blonde Locken sind mir fremd, aber was macht man nicht alles, um Landluft zu schnuppern. Das heißt bei Farmville: Säen, wässern, ernten, dann Tierfutter bereiten und Tiere füttern, worauf diese aus lauter Dankbarkeit Dinge produzieren, die sich im virtuellen Laden an nicht erscheinende Kundschaft verhökern lassen. Ernte ich nicht in einem vorgegebenen Zeitfenster, blicke ich auf welke Landschaften. Dislike it.
Farmville ist die Ursuppe aller Browserspiele, Cityville das erfolgreichste – und wie sich bereits am Namen erkennen lässt, stammen beide aus der gleichen Programmschmiede. Das US-amerikanische Unternehmen hat seine Europa-Zentrale in Luxemburg angesiedelt. Was auch irgendwie logisch scheint, denn kein anderes Land hat so sehr den Wandel von ruraler Landwirtschaft zu urbanen Banken geschafft wie Luxemburg. Nun soll der nächste Schub des Strukturwandels gelingen: zur Kreativwirtschaft. Schick heißt es dann auch bei den Machern der virtuellen Bauern: Zynga – San Francisco, Beijing, Luxembourg. Es hat einen Hauch von Silicon Valley an der Pétrusse. Das lockte weitere Gaming-Anbieter an: On Live, Nexon und Kabam.
Zynga kleckert nicht, sondern klotzt bei seinen Zahlen: 311 Millionen Spieler gebe es weltweit, heißt es in den offiziellen Zahlen des Unternehmens. Das verwundert nicht für die frühere Facebook-Filiale. Als sich eine Marktchance abzeichnete, nabelte sich das Unternehmen vom sozialen Netzwerk ab und bot ein eigenes Portal an, das aber auf die enge Bindung weiterhin nicht verzichtet. Auch wenn Zynga verspricht, dass eine Anmeldung über Google-Plus, Tencent, Apple IOS und Google Android möglich sei, beharrt beim Selbstversuch das Anmeldeprocedere auf einen aktiven – im Hintergrund laufenden – Facebook-Account. Welche Nutzerdaten dabei an Zynga übertragen werden, bleibt dem virtuellen Landwirt verborgen. Ein Datenschutz im Sinne europäischen Rechts ist jedenfalls nicht gegeben und so fließen mindestens Name, Geburtsdatum, E-Mail-Adresse, vielleicht auch noch das Benutzerfoto und das Surfverhalten. Facebook und Zynga tauschen ihre Marktmacht aus, solange das Gemüse ins Land schießt.
Auf der virtuellen Farm gibt es zwei verschiedene Währungen: Münzen und Scheine. Münzen verdiene ich gratis durch meine Bauerei. Das geht seinen Gang und dauert seine Zeit. Doch das Kleingeld ist ohnehin überbewertet und Scheine sind weitaus wichtiger. Sie beschleunigen den Gang der Dinge, verkürzen die Produktionszeit, bringen Pep ins Spiel. Nur Scheine kosten. Reales Geld. Über mannigfaltige Bezahlmethoden bucht Zynga Geld von meiner Kreditkarte ab und lässt mir Scheine zukommen. Für Dünger. Für Fortschritt. Für Erfolg. Damit verdient der Laden sein Geld und mit Werbung – natürlich auf den vir-tuellen Bauern abgestimmt.
Dennoch sehen die Zahlen von Zynga durchweg beschissen aus: Im vergangen Jahr machte man einen Umsatz von 1,28 Milliarden US-Dollar, rund 980 Millionen Euro, ein Plus von zwölf Prozent gegenüber dem Vorjahr, doch am Ende blieb ein fettes Minus von 209 Millionen US-Dollar, umgerechnet 160 Millionen Euro. Im vierten Quartal 2012 musste das Unternehmen sogar einen Umsatzrückgang von 15 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum hinnehmen. Die Sterne stehen nicht günstig. Oder: Das Gemüse welkt – schneller, als die Mitarbeiter es ernten können. Das führte auch im vergangenen Oktober zu der Konsequenz, dass Zynga fünf Prozent seiner Angestellten entließ und die Niederlassung in Boston komplett dicht machte.
Wie Facebook hat auch Zynga einen wesentlichen Trend verschlafen: Tablets und Smart Phones. Die Spiele lassen sich zwar über diverse Apps auch unterwegs spielen, aber die Werbebotschaften, mit den das Unternehmen schließlich sein Geld verdient, lassen sich dort noch nicht unterbringen. Aber in diesem Jahr soll alles besser und bunter werden: „Wir freuen uns, 2013 eine neue Klasse von Social Games für Mobiltelefone und Tablets zu veröffentlichen sowie ein Netzwerk aufzubauen, das eine einfachere und bessere Möglichkeit bietet, mit Freunden vernetzt zu spielen“, so Mark Pincus, Gründer und Chef von Zynga anlässlich der Bilanzpressekonferenz Anfang Februar. On Live, das sich in Bettemburg angesiedelt hat, ist wesentlich weiter und lässt seine Spiele sogar auf der X-Box laufen. Das kostet. Seinen Preis. Die Spiele lassen sich kostenlos ausprobieren, wer dann dem Game verfällt, der muss zwischen umgerechnet 15 Euro und 38 Euro bezahlen, um in die Vollversion der Spiele eintauchen zu können und gemeinsam mit Freunden im Netzwerk Scheinriesen zu bekämpfen.
Freunde? Habe ich denn überhaupt noch Freunde? Die meisten der virtuellen Bekannten haben sich längst beschwert, dass meine Facebook-Statusmeldungen über reifes Gemüse, neue Mafia-Paten und siegreiche Schlachten nerven. Und zwar unendlich nerven. Einige haben mir die Freundschaft gekündigt. Im Netz. Am Abend bleibt immer noch Zeit für ein Kaltgetränk, aber ein schnelles, muss es sein, denn kurz nach der Tagesschau ist wieder Weizen reif.
Dann doch die Zielgruppe wechseln. Während sich Zynga für Zwischendurchspieler positioniert, hat es Kabam auf Permanentspieler abgesehen. Also solche Menschen, die morgens aus dem Bett kriechen – wenn sie sich denn überhaupt schlafen legten – und sich vor den Rechner zu setzen, um stets und ständig in die virtuelle Spielwelt einzutauchen. Diese funktionieren im Grunde genommen wie die von Zynga. Man meldet sich kostenlos an, kann eine Weile auch gratis mithalten, es gibt virtuelle Aufgaben zu erledigen, die mal länger, mal kürzer dauern, dann gibt es Punkte, mit denen man in der Rangliste aufsteigt. Um möglichst schnell unter die ersten zehn zu kommen oder einen nennenswerten Spielfortschritt zu erzielen, muss man die Kreditkarte zücken. Während Farmville niedlich des Wegs kommt, knüpfen Kabam-Spiele an Bekanntes an, sei es die Mittelerde-Welt von Tolkien oder in The Godfather etwa Mafia-Gefilde, die an die Filmreihe Der Pate erinnert. Auf dem virtuellen Bauernhof bleibt man die Comicfigur, beim Paten wird man Mafiaboss und entwickelt in der Interaktion mit Mitspielern, auch hier sind Facebook-Freunde gerne gesehen, seinen virtuellen Charakter. Im Selbstversuch als Halunke der Unterwelt besteht hier meine Aufgabe im Bauen von Verstecken, Waffenlagern, Zementfabriken und Wohnhäusern. Über den Chat kann man sich mit Mitspielern zu Bandenkriegen verabreden, um Respekt zu gewinnen, das ist die Gewinnpunktwährung in der Mafiawelt. Es funktioniert gleich, es wird auch in der gleichen Zeit langweilig. Sterbenslangweilig. Dennoch hat Kabam jeden Monat vier Millionen Spieler in all seinen Spielern, wie viele davon tatsächlich die Kreditkarte zücken, um schneller Boss im Spiel zu werden oder in einem Weltkriegsspiel den Lauf der Geschichte neu zu bestimmen, darüber schweigt man.
Auch Nexon machte Luxemburg zur Europa-Base. Die Faktoren stimmen: schnelle Datenautobahn, mehrsprachige Arbeitnehmerschaft, günstige Steuern. Das reicht für ein Servicebüro. Aber wird es auch Spiele „Made in Luxemburg“ geben? Man hält sich bedeckt. Bankville wäre ein Vorschlag. Irgendwelche Bankprodukte auflegen, verhökern, abzocken, Mitspielern faule Papiere verkaufen, Wetten abschließen, ob Schrottimmobilien das Rennen machen oder man gratis ein Vermögen machen kann.