Ein Sylvester-Feuerwerk: blitzende Raketen fliegen in den Himmel und Frida blickt ihnen mit großen Augen nach, ohne wie die meisten Kinder um sich herum eine Träne zu vergießen. Von Anfang an folgt die Kamera dem sechsjährigen Mädchen: die dunkle Vorgeschichte erschließt sich dem Zuschauer, schemenhaft angedeutet, erst bruchstückhaft. Man folgt Frida (Laia Artigas), wie sie ins Auto verfrachtet wird. Von Barcelona geht es zu ihrer Tante aufs Land. Geflissentlich packt sie ihre Puppen ein und erklärt ihrer Cousine Anna etwas altklug: „Weißt Du wieso ich so viele davon habe? Weil sie mich alle lieben!“
Carla Simóns Coming of age-Drama, das erstmals 2017 auf der Berlinale gezeigt wurde, spiegelt die Kindheit der jungen Regisseurin wider. Ihre Figur Frida ist gewissermaßen ein Alter Ego der Regisseurin. Das Drehbuch zu Estiu 1993 schrieb Carla Simón direkt nach Abschluss ihres Studiums der Filmwissenschaften in London.
Es ist die Geschichte eines kleinen Mädchens auf der Suche nach ihrem Platz, ein Ringen um Anerkennung und Zärtlichkeit. Die Kamera ruht stets auf der Protagonistin, sodass man als Zuschauer die Perspektive Fridas einnimmt, ihre Sicht auf die Welt wahrnimmt und ihre Einsamkeit so ein Stück weit nachempfinden kann. Ein bisschen erinnert der Film damit an François Truffauts Klassiker Les quatre cents coups, in dem man das Paris der 50er Jahre aus der Sicht des 14-jährigen Antoine sieht. Und dennoch hat Simóns Drama seine ganz eigene Filmsprache, die nicht zuletzt geprägt ist durch folkloristische Elementen aus Katalonien.
Beeindruckend spielt Laia Artigas die Rolle des störrischen Mädchens, das mit Erwachsenenaugen in die Welt blickt, im Spiel mit ihrer Cousine trotzig ihre Kindheit einfordert und dennoch versucht, das Geschehene zu begreifen, indem sie das Schweigen über den Tod ihrer Eltern bricht.
Über deren Krankheit (HIV) flüstern die Erwachsenen nur hinter vorgehaltener Hand. „Deine Eltern haben Dummheiten gemacht...“, deutet ihre Großmutter gegenüber dem Kind an, bevor sie ihr das Vater-Unser eintrichtert. Moralisierende Worte, die dem Kind bigott suggerieren, dass sie für diese Dummheiten von Gott „bestraft“ wurden.
Doch in weiten Teilen kommt Simóns Film ohne Dialoge aus. Stattdessen sieht man Frida meist beim Herumtollen mit ihrer jüngeren Cousine Anna (Paula Robles). Erst durch sie offenbart sich der Kontrast zwischen einem sorglosen Kind voller Selbstvertrauen und dem verunsicherten, um Aufmerksamkeit heischenden Waisenkind Frida. Wenn die Eltern das eigene Kind in Schutz nehmen und dem fremden Kind tendenziell die Schuld geben, wann immer etwas passiert, meint man die Kränkung und Verletzungen Fridas durch Simons Kameraführung am eigenen Leib zu spüren.
Dass das über zwei Stunden lange Drama langsam gefilmt ist und die Handlung auf keinen Höhepunkt hinausläuft, stört dabei kaum. Vielmehr reiht der leise Film, in dem man nur die flirrende Hitze des Sommers zu hören meint, Momente aneinander, die sich wie ein Puzzle zu einem geschlossenem Ganzen zusammenfügen. So entsteht ein durchwachsenes, doch stimmiges Bild einer Kindheit, die durch den frühen Verlust der Eltern geprägt ist. Erst am Ende wird Frida unvermittelt und hemmungslos weinen – fast ohne konkreten Anlass, scheint es. Es sind Tränen, die auch den Zuschauer aus seiner Beklemmung befreien. Mit Estiu 1993 hat Carla Simón einen unprätentiös-poetischen und verblüffend kitschfreien Film gedreht, der unter die Haut geht und lange nachwirkt.