Auf dem Uni-Campus in Arlon stellt sich ein dunkelhaariger, leicht molliger Mann vor: „Ech hunn 30 Joer al, si Belge a Lëtzebuerger, ech schaffen zu Lëtzebuerg. Mäi Papp schwätzt Lëtzebuergesch, hien ass vu Messancy.“ Albert Conter, Leiter der Gesprächsrunde, unterbricht ihn: „Vu Miezeg!“. Der junge Mann heißt Johan Pierret und ist an diesem Novemberabend als einziger Teilnehmer anwesend; meistens kommen zwei, drei Personen zum Sprachkurs. Pierret ist Archivar am Gesundheitsministerium in Luxemburg-Stadt und hat bereits mehrere Luxemburgischkurse besucht, auch während seiner Studienzeit an der Universität Namur. Seine Mutter ist eine frankophone Belgierin, weshalb er in seiner Kindheit kaum Zugang zur luxemburgischen Sprache hatte, obwohl es die Muttersprache seiner Familie väterlicherseits ist. „Et ass eng komplizéiert Sprooch, et ass méi schwéier ze léieren wéi Däitsch, wëll et vill Exceptioune ginn“, meint er. Das Sprechtraining wird von der Stiftung Nothomb organisiert, deren Ziel die Förderung des Multilinguismus in Südbelgien ist.
Albert Conter hat in seiner Mappe mehrere Texte mitgebracht. Wie das Gedicht Eis Fuerwen aus dem Jahr 1907. Verfasst wurde es von dem in Echternach geborenen und später in Arlon lebenden Deutschlehrer Nikolaus Warker. Wer an seinen Zeilen lernen muss, gerät vielleicht ins Schwitzen, weil die Aussprache und Schreibweise anachronistisch wirken. Auch der Inhalt. In dem auf Belgien bezogenen patriotischen Gedicht liest man: „Wuerun sech d’Leit gewinnen. Dat gëtt net méi vill geuecht. Hues du, mäint Kaund, schon emol un d’Fuerwe vum Land geduecht!“ Neben ihm liegt ebenfalls das Buch 170 Witzer op Lëtzebuergesch von Jérôme Lulling. Hier geht es rabiat zu: „Nondikass“ liest man, sowie „mault lo hei net domm“. Gibt es Wörter die typisch für das Arlerland sind? Albert Conter bejaht, „wir sagen Äschterchen für Dachboden“. Darüber hinaus gebe es Varianten, die man bevorzugt, wie „Huesen“ statt „Strëmp“. Es sind Varianten, die ebenfalls im Nordwesten des Großherzogtums verbreitet sind. Albert Conter ist Präsident des Vereins „Arlerland a Sprooch“. „Seit der Corona-Pandemie läuft nicht mehr viel. Wir sind alle alt.“ Gegründet wurde der Verein im März 1976 mit dem Ziel, die Freude am Luxemburgischen wiederzubeleben. „Wir wollten auch offiziell als sprachliche Minderheit anerkannt werden.“ Nahezu vergeblich.
2019 kam schließlich die damalige Kulturministerin Alda Greoli in die Gemeinde Attert, um dort Luxemburgisch offiziell als „langue endogène“ anzuerkennen. Wurde Luxemburgisch als Minderheitensprache in der Nachkriegszeit als Bedrohung für Wallonien betrachtet, wird sie heute als Folklore und Diversitätsmerkmal gefeiert. Eine Konvention hält nun fest, dass „das Recht, im privaten und öffentlichen Leben eine Regional- oder Minderheitensprache zu gebrauchen, ein unverjährbares Recht darstellt“. Und dass die Regionalsprachen zum Reichtum „des wallonischen Kulturerbes beitragen“. Man wolle sich bemühen, den Gebrauch von Regionalsprachen in den verschiedenen Bereichen des kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens zu fördern. Dieses Vorhaben dürfte allerdings an der demolinguistischen Realität scheitern – es fehlt womöglich an der kritischen Masse, die die Regionalsprachen am Leben halten können. Als weitere germansiche Minderheitensprachen werden das Brüsseler Brabantisch und karolingische Fränkisch genannt.
Heute ist das politische Interesse an Dialekten wieder lebendiger. Als um das Jahr 2000 wenig politischer Rückhalt aus dem wallonischen Parlament für ein zwei- oder dreisprachiges Südbelgien kam, formierte sich Widerstand rund um die Partei Rassemblement Luxembourgeois. Aber als politische Priorität erachtete das Thema nur eine Minderheit; die Partei holte keine fünf Prozent bei den Kommunalwahlen. Unterstützt wurde die Initiative allerdings von dem Diplomaten Patrick Nothomb (1936-2020), Vater der Schriftstellerin Amélie Nothomb. Damals eilte der ADR-Präsident Robert Mehlen der Partei zur Hilfe und drängte die Kulturministerin Erna Hennicot-Schoepges in einer parlamentarischen Anfrage den Rassemblement Luxembourgeois zu fördern. Das könnte die damalige Ministerin in Verlegenheit gebracht haben, die eng mit dem belgischen Christdemokraten Charles-Ferdinand Nothomb zusammenarbeitete, dem Onkel von Patrick Nothomb. Um diplomatischen Komplikationen aus dem Weg zu gehen, stellte sie sich allerdings nicht hinter die Regionalpartei im Nachbarland.
2008 bildete einen erneuten Wendepunkt. Ein neues Staatsangehörigkeitsgesetz wurde gestimmt, das es Nachkommen ermöglichte, die Staatsangehörigkeit wiederzuerlangen, wenn sie unter den Urur- oder Urgroßeltern einen Teil ausfindig machen konnten, der im Jahr 1900 Luxemburger war. Ausformuliert wurde das Gesetz vom damaligen Justizminister Luc Frieden. Gegenüber dem Land sagte er im vergangenen Frühjahr er erinnere sich, dass der Wunsch „fir och erëm Lëtzebuerger ze ginn“ auf Belgier aus der Provinz Luxemburg zurückgehe, deren Vorfahren Luxemburger gewesen seien. (Der Historiker Denis Scuto urteilt in einem unlängst erschienen Artikel, das Bestreben ginge auch auf in die USA emigrierte Familien zurück). Wie Erna Hennicot-Schoepges unterhält Luc Frieden ebenfalls enge Beziehungen zur belgischen Schwesterpartei. Im September hielt er gemeinsam mit Maxime Prévot, Parteipräsident von Les Engagés (ehemals trug die Partei das C im Namen), eine Pressekonferenz ab, in der sich beide für eine solide Kooperation in der Großregion aussprachen. Der Auftritt kurz vor den Wahlen war wohl zugleich an Belgo-Luxemburger, Neo-Luxemburger und in Belgien lebende Luxemburger adressiert – also an potenzielle Wähler.
2012 nimmt Patrick Nothomb, zu dem Zeitpunkt Berater des Gouverneurs der belgischen Provinz, die luxemburgische Nationalität an und gründet mit dem Sprachwissenschaftler Philippe Greisch, dem Notar Henri Bosseler und dem Museumsdirektor David Colling den Verein Amicale des Néo-Luxembourgeois. Der Verein zählt derzeit 250 Mitglieder und lud zu einem Potpourri an unterschiedlichen Konferenzen ein. Vorträge hielten Pierre Gramegna in seiner Funktion als Finanzminister, der Historiker Denis Scuto und der Botschafter Thomas Antoine. Im März findet eine Veranstaltung mit dem Präsidenten der Rad-Föderation, Camille Dahm, statt. Führungen zum Schloss Colpach, zur Chamber und zum Campus Belval wurden ebenfalls bereits organisiert.
Dass das Arlerland seit 1839 zu Belgien gehört, ist ein geopolitisches Kuriosum. Denn eigentlich sollten die Gebiete nach linguistischen Eigenheiten aufgeteilt werden. Doch Frankreich wollte die strategisch gelegene Straße, die von Longwy über Arlon und Bastnach nach Lüttich und Brüssel führt, auf belgischem Gebiet sehen, um sie vor deutschem Einfluss zu bewahren. Später wurde aus dieser Achse die N4. Zunächst kümmerte die Bewohner von Attert, Martelingen, Diedenberg oder Tintingen die offizielle Sprachpolitik kaum; sie sprachen weiterhin Moselfränkisch. Noch zwischen den beiden Weltkriegen gaben 80 Prozent der Einwohner des Arlerlandes an, Deutsch (also Luxemburgisch) zu sprechen und nur 20 Prozent nannten Französisch als Erstsprache. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Verhältnis genau umgekehrt. Man wollte sich von germanischen Sprachen distanzieren, es war die Sprache des Feindes und man wollte sich als belgische Patrioten positionieren. In den Schulen aber war die Realität häufig noch eine andere. Josy Arens, der Bürgermeister aus Attert, erinnert sich im Forum: „Ich habe an meinem ersten Schultag in Attert, das war 1958, noch kein Wort Französisch gesprochen. Für die meisten Kinder war die Muttersprache Luxemburgisch. Wer damals gesellschaftlich was gelten wollte, musste das Luxemburgische fallen lassen und sich in Französisch ausdrücken.“ Durch Initiativen wie den Sprachkursen der Stiftung Nothomb will man die Zeiten überwinden, in denen die Luxemburgisch Sprechenden in der Schule mokiert wurden. Es hieß lange: „Hört auf, Bauernsprache zu sprechen!“
Im 19. Jahrhundert veranlasste der belgische Staat präzise Statistiken zur Sprachenvielfalt, stellte Erhebungen zum Luxemburgischen jedoch nach dem zweiten Weltkrieg ein, um politischen Spannungen den zahlengestützten Nährboden zu entziehen. Josy Arens schätzt im Forum, dass in den 1960-er-Jahren rund 60 000 Belgier Luxemburgisch sprachen, also zahlenmäßig genauso viele wie Deutsch (in Ostbelgien um die Städte Malmedy und Sankt Vith). Mittlerweile kursiert die Schätzung von 15 000 luxemburgischsprachigen Belgiern. Belastbar ist die Zahl nicht. Hinzu kommen Luxemburger, die in Belgien leben – laut Statec etwas mehr als 25 000. Und Belgier, die in Luxemburg leben: Mit 19 414 Staatsangehörigen machen sie die viertgrößte ausländische Gemeinschaft aus (nach Italienern, Franzosen und Portugiesen). Die meisten Belgier haben sich entlang der Grenze angesiedelt: In Ell machen sie 13 Prozent aus, in Winsler gar 22.
Während der Verein Néolux kulturpolitische Aspekte betont, werben andere Gruppierungen vordergründig mit wirtschaftspolitischen Anliegen für eine Annäherung an das Großherzogtum. 2008 ging eine erste Petition umher, die für einen Anschluss der belgischen Provinz Luxemburg an das Großherzogtum plädierte. Als Hauptargument wurde die Unterfinanzierung von öffentlichen Infrastrukturen bemängelt. Auch die Instandhaltung der N4 wurde gefordert, der politisch brisanten Straße, die die Grenzziehung mitbestimmte. Weil der Nachbarstaat immer wieder von Krisen der föderalen Institutionen geschwächt wird, malen sich nicht mehr nur innenpolitische Pessimisten ein Zerfleddern von Belgien aus. Das gleiche Szenario spukt durch die Facebook-Gruppe Réunification du Luxembourg Belge au Grand Duché de Luxembourg, die 2021 im Pandemie-Loch gegründet wurde und die mittlerweile mehr als 11 000 Mitglieder zählt. Die Gruppe zeichnet ein Belgien, das politisch am Ende stehe, während sich hinter der Grenze das gelobte Land befände: „Le Grand-Duché attire les talents. Il rémunère l’initiative privée et couronne la réussite tout en possédant un système social évitant la misère et les dérives.“ Und weiter: „Wer die Grenze überquert und durch Stadt und Land spaziert, entdeckt eine andere Welt, die von soliden Institutionen und pragmatischen sowie konstruktiven Menschen geprägt wird.“ Es scheint sich zuvorderst um Einwohner aus dem französischsprachigen Teil Belgiens zu handeln, die nach Südbelgien zugewandert sind. Das demographische Wachstum liegt im Arlerland mittlerweile bei über einem Prozent jährlich. Die Grenzgänger aus Belgien sind meist gut ausgebildet und verdienen im Schnitt 25 Prozent mehr als die in Luxemburg arbeitenden Franzosen, die eher geringqualifizierte Dienstleistungsposten besetzen. Ende 2023 machten die Belgier 51 650 der Beschäftigten aus von insgesamt 485 000 Angestellten.
Im Großherzogtum erfährt man wenig von den Annexionswünschen aus der belgischen Provinz. Um dem Desinteresse entgegenzuwirken, zählt die Facebook-Gruppe Réunification die Vorteile der Provinz auf: Ein kaum besiedeltes Gebiet, mit zahlreichen Naturschtuzzonen, Wäldern und Grundwasserreserven. Der Bürgermeister von Arlon, Vincent Magnus, sagte dem Quotidien, das Anliegen der Gruppe scheine ihm völlig unrealistisch. Und rief die Einwohner der Provinz auf, zunächst ihre Luxemburgisch-Kenntnisse zu vertiefen. Das, was die Belgier und Luxemburger verbinde, gehe ohnehin über die Politik hinaus, so Magnus. Er erinnere daran, „dass Xavier Bettel mit einem Arloner verheiratet ist“.