Die kleine Zeitzeugin

Die Zeitenwendigen

d'Lëtzebuerger Land du 01.11.2024

Wann ist es geschehen, dass alles switchte? Kippte? Wann war er da? Der Klimawandel in der Politik und der Gesellschaft und seine Kipppunkte?

Als junge Männer sich unter Aufsicht in ein Gehäuse bewegten, das nicht ausschaute als würde irgendjemand freiwillig hineingehen, und EU-Politiker/innen dazu befriedigt lächelten? Als hätten sie jetzt Großes geschaffen. Der große Wurf. Der große Gesellschaftsentwurf. Als sich die EU- Politiker/innen gegenseitig applaudierten, weil sie so geniale Ideen hatten. Wenn auch nur Kleinkram fürs Erste, Kleinvieh macht auch Mist. Wollte ja schon mal einer von ihnen das Mittelmeer absperren, hat dann leider nicht geklappt. Mit ihm. Die Zeit war wohl noch nicht reif. Für ihn.

Als Dame von der Leyen den migrationspolitischen Pioniergeist beschwor? Die sind wir los! heißt es auf normal. Normal ist plötzlich gefragt, alle wollen nur noch normal sein, die Stimme des Volkes soll wieder ertönen, obschon die Expert/innen sich bzgl. Volk sehr uneins sind. Aber egal, der alte fahle Mann und der junge fahle Mann geben wieder ihren Senf dazu und ihren Mist auch, nicht nur regenbogenfarbene Komische, endlich dürfen die Normalen die es gar nicht gibt wieder normal sein, wie schön!

Als die honigsüße Meloni, Blauaugen weit aufgerissen, umschnurrt von maßgeblichen Entscheidungsträgern der EU, den europäischen Geist besang? Der sich gerade aufgibt, und Jean Asselborn sagt sicher Merde, aber leider nicht auf allen Kanälen. Als ein vor Selbstzufriedenheit strotzender Tross von EU- Politiker/innen um Meloni sich kamerawärts bewegte, der in sich hinein lächelnde deutsche Bundeskanzler, eilfertig an seiner Seite der österreichische Tollpatsch, der omnipräsente Orban? Cool, wie geschmeidig das läuft! Ach, wie easy, man muss es nur tun!

Als die munteren Stimmen von Moderator/innen den Fernseher/innen ein Modell vorstellten, ein Experiment, wie sie es nannten? Einen Ort, den man üblicherweise Gefängnis nennt. Gefängnis nennen ihn auch die Bewohner/innen des albanischen Dorfs, in dem das Experiment stattfindet. Sie waren zuerst nicht begeistert, aber dann gab es die Option, das Gefängnis zu putzen oder die Menschen darin zu bewachen und dann sahen sie es positiver.

Es klappt dann zwar nicht so richtig, der Fortschritt hat immer Feind/innen. Aber wo ein Wille ist. Das Mantra Abschrecken, Ausweisen, Abschieben wird jedenfalls weiter gebetet, die Maßgeblichen in der EU lassen sich nicht abschrecken. Die Zeiten, als Menschen sich den Kopf zerbrachen, ob man Flüchtlinge sagt oder Flüchtende oder Geflüchtete oder doch besser Refugees, sind vorbei. Man sagt jetzt Die. Die da. Die vielen. Die viel zu vielen.

Und das geht so schnell. Das ist so schnell gekommen. Obschon, die Vorboten. Damals, als Scholz die Waffen in einer deutschen Rüstungsfabrik streichelte. Ja, ok, Waffen. Vielleicht klappt es nicht, wenn man nett ist zu Putin. Wegen seiner Kindheit und dem Nato-Trauma. Aber der verklärte Blick von Scholz beim Waffenstreicheln. Ja, ok, es können nicht alle kommen. Aber warum plötzlich die dünnen Lippen, und die deutschen Hauptstadtjournalistinnen mit dem auf einmal messerscharfen Blick? Warum das sich plötzliche Ereifern, die sadistischen Einfälle? Zugleich die Verwischung und Vermischung, blutrote Linien, immer verwaschener werden sie. Braune Linien gelten nicht mehr. Warum auch, wozu die hinderlichen Tabus?

Einem Künstler in Luxemburg wird das Aufenthaltsrecht entzogen, seine Anwesenheit, seine Kunst bedeuten keinen Mehrwert, sind somit nichts wert. Der Klartext herrscht. Keine falsche Scham mehr. Konservative Abgeordnete übernehmen Inhalt und Tonfall der Rechten, auch wenn sie sich pro forma wehren, mit ihnen in Verbindung gebracht zu werden. Die Form will man noch wahren. Noch. Aber ein neuer Ton herrscht, der herrschende Ton, der jetzt der gute Ton ist. Man will zur Sache kommen. Die Neue Sachlichkeit. Die lange so genannten gähn Werte werden schleunigst fallengelassen, nur noch Ballast. Altlasten. Aus der Jugend der EU. War schön, klar, aber die Zeiten haben sich gewendet. Und die Gewandten sich mit ihnen.

Michèle Thoma
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