Was sollen Hebammen dürfen?

Sind so kleine Hände

d'Lëtzebuerger Land du 19.07.2001

"Ich hatte noch das Glück, mit freiberuflichen Hebammen zu arbeiten." Joseph Mersch, Gynäkologe und Geburtsmediziner, ist heute 76. Halbtags öffnet er noch immer seine Praxis, aber Entbindungen betreut er nicht mehr. Mehr als 10 000 Kinder haben mit seiner Hilfe das Licht der Welt erblickt, davon mehr als 800 außerhalb einer Klinik.

 

Wer heute zu Hause entbinden will, kann sich zwar nicht mehr an Dr. Mersch wenden, aber zum Beispiel nach Mersch. Dort wohnt Martine Welter, die derzeit einzige völlig freiberuflich tätige Hebamme in Luxemburg. Und die einzige, die noch Zuhaus-Entbindungen vornimmt. Zwei bis sechs pro Jahr; immerhin hat sie das gelernt, und wenn es während der Geburt des Kindes keine Komplikationen gibt, ist die Anwesenheit eines Arztes nicht nötig. Eigentlich logisch: die Menschheit ist schließlich älter als moderne Geburtenkliniken, und eine Frau ist nicht krank, nur weil sie schwanger ist.

 

Aber so einfach sind die Verhältnisse nicht. Schon aus dem Alterum datieren Überlieferungen vom Wirken der  "sages-femmes", der weisen, der "wissenden" Frauen, die "die einsetzende Geburt voraussehen", wie etwa die alt-hebräische Übersetzung es nennt.

Doch die wissenden Frauen fühlen sich heute an den Rand gedrängt. Viele der 96 Hebammen im Lande, sagt Martine Welter, die auch Sprecherin der Association luxembourgeoise des sages-femmes ist, würden beklagen, von den Geburtsmedizinern in den Kliniken lediglich als spezialisiertere Krankenschwestern angesehen zu werden. Was sie nicht sind: Hat eine Hebamme nach dem Krankenschwester-Diplom ihre zweijährige Zusatzausbildung absolviert, hat sie bereits mindestens 40 Geburten betreut, ist berechtigt, verschiedene Untersuchungen an Schwangeren vorzunehmen, Vorabdiagnosen zu erstellen, während des Geburtsvorgangs bestimmte Medikamente zu verabreichen und falls nötig sogar eine winzige Operation durchzuführen: den Dammschnitt an der Vulva, falls deren Haut während der Geburt zu reißen droht.

 

"Wir sind natürlich keine Medizinerinnen", sagt Martine Welter, "unser Ansatz ist ein anderer. Wir arbeiten vor allem mit unserer Erfahrung. Wir begleiten einen natürlichen Prozess, die Geburt. Der Arzt sollte nur dann eingreifen, wenn es ein Problem gibt."

 

Doch im modernen Klinikbetrieb fällt die Abgrenzung von gesund und krank immer schwerer. "La grossesse", beschrieb Joseph Mersch die Zukunft in einem Beitrag für den Lëtzebueger Mariekalenner 2001, "restera majoritairement spontanée, mais elle sera surveillée par toute la quincaillerie technologique qui va encore s'amplifier et se perfectionner. Prochainement, la maman, le papa verront leur embryon, leur foetus in utero en trois dimensions et en couleur."

 

Immer größerer technischer Aufwand für Beobachtung und Problemerken-nung aber lässt eine Schwangerschaft geradezu zwangsläufig wenn nicht zur Krankheit, dann aber zu einer immer riskanteren Angelegenheit werden. Nicht erst im Kreißsaal, sondern schon vorher, da der Gynäkologe nach Anomalien fahndet. Die Unsicherheit der Schwangeren wächst: "Immer öfter", berichtet Corinne Lauterbour-Rohla, Hebamme und Mitarbeiterin der asbl Initiativ Liewensufank, "melden sich bei uns Schwangere oder Paa-re und sagen, nach der Echografie-Untersuchung habe der Arzt dies und das gesagt. Wenig davon sei jedoch verstanden worden. Nachzufragen habe man sich nicht getraut. Außerdem habe die nötige Zeit gefehlt." Entsprechend überlaufen sind die 20 Stunden umfassenden Geburtsvorbereitungskurse, die die Initiativ Liewensufank anbietet. Um Anmeldung möglichst lange im Voraus wird gebeten.

 

Die Ärzteschaft freilich will den Vorwurf, zunehmend technokratischer zu agieren, nicht auf sich sitzen lassen: "Der Arzt ist verpflichtet, auf jede pontenzielle Gefahr hinzuweisen", erklärte der Gynäkologe Claude Borsi von der Maternité im hauptstädtischen Centre hospitalier kürzlich in einem Interview mit der Zeitschrift forum. Falls irgend etwas schief läuft, würde die Frau als erstes dem Arzt den Vorwurf machen, nicht auf die Gefahr hingewiesen zu haben. Und leider bewege sich die Medizin "immer stärker zwischen Juristerei und gesundem Menschenverstand". Auch Joseph Mersch teilt diese Ausicht.

 

Noch ist Luxemburg nicht die USA; der asbl Patientevertriedung etwa gingen in den letzten drei Jahren bezogen auf 16 691 Geburten nur drei Fälle zu, in denen Frauen Geburtsmediziner für während oder kurz nach der Geburt entstandene Schäden am Kind verantwortlich machten. Keine ging bis vor ein Gericht. Auch dem Collège médical, dem Kontrollorgan der Ärztetätigkeit, ist nichts bekannt von einem Anstieg von Gerichtsklagen, häufen würden sich in letzter Zeit dagegen Beschwerden über das Verhalten der Ärzte: zu unpersönlich, zu wenig Zeit sich nehmend.

 

Und das sind keine gute Voraussetzungen für Angstfreiheit Schwangerer, an der auch der Arzt ein Interesse haben muss, denn Stress ist ein potenzieller Problemherd für die Entbindung. Ein Grund, weshalb Martine Welter jeder Schwangeren von einer Zuhaus-Entbindung abrät, die dergleichen nur aus Angst vor einem Klinikaufenthalt wünscht: aufgeklärt müssten die Schwangeren sein, die Geburt als etwas völlig natürliches ansehen und darin auch von ihrem Partner bestärkt werden. Und Pannen könnten natürlich vorkommen, und manche Fälle landen vor Gericht: Nicht erst seit kurzem, sondern seit mehreren Jahren schon ist  ein Prozess gegen eine Hebamme und einen Arzt anhängig, die bei einer Komplikation, die während einer Zuhaus-Entbindung aufgetreten war, zu spät entschieden, die Schwangere in eine Klinik zu bringen. Das Neugeborene kam unter Sauerstoffmangel und mit einer geistigen Behinderung zur Welt.

 

In der Auseinandersetzung, wo innerhalb der Hightech-Medizin denn der Platz für die eher einfühlende, der Erfahrung vertrauende Arbeitsweise der Hebammen ist, hat die Forderung nach einer Ausweitung der Zuhaus-Entbindungen, für die die Krankenkassen nicht aufkommen, für den Hebammenverband deshalb keine erstrangige Priorität. Allerdings ist auch die Nachfrage nicht viel höher als jene drei bis sechs Interessentinnen, die Martine Welter jährlich betreut. Und Schwangere, die etwa bei der asbl Initiativ Liewensufank Beratung und Informationen suchen, möchten nur selten außerhalb von Kliniken entbinden. Da gilt es eher, Unklarheiten und Ängste abzubauen.

 

Es ist der Zugang zur Beratung Schwangerer vor der Entbindung, den die Hebammen fordern. Der ist zwar möglich nach dem Gesetz über den Schutz schwangerer Frauen und Neugeborener aus dem Jahre 1972, in der Praxis aber nur auf privater Basis: ein großherzogliches Reglement sieht die Übernahme der Kosten durch die Kassen allein für den Arzt vor, es sei denn, er verschreibt im Falle einer "Pathologie" eine Beratung und Untersuchung durch eine Hebamme.

 

Damit wird - bei aller Eigendynamik des medizintechnologischen Fortschritts und den Ängsten Schwangerer, die auch durch so manche Bücher zum Thema geschürt werden - die Angelegenheit politisch. Der Hebammenverband ist zwar Mitglied der Nomenklaturkommission der Krankenkassenunion, in der über die Kostenübernahme neuer medizinischer Akte diskutiert wird. "Aber gegen die dort vertretenen Ärzte", sagt Martine Welter, "kommen wir nicht an."

 

Freilich sind Medikalisierung und Hospitalisierung der Geburten historisch gewachsen. Ab den 20-er Jahren hatte es kleine private Maternités gegeben: Hebammen boten in ihren Häusern den Schwangeren Betten an. Allerdings waren sie Wohlhabenderen vorbehalten, und in den 60-er Jahren schlossen die letzten dieser Häuser. Viele der älteren Hebammen waren mittlerweile verstorben; jüngere zogen das Angestelltenverhältnis in einer Geburtenstationen vor: bedeutete Freiberuflichkeit doch nicht selten einen Arbeitstag von bis zu 15 Stunden.

 

Im Ausland sind ähnlich gelagerte Einrichtungen als Geburtenhäuser längst wieder in Mode gekommen. Luxemburg sei das einzige EU-Land, meint Corinne Lauterbour-Rohla von der Initiativ Liewensufank, in dem es keines gibt. In solchen Häusern arbeiten Hebammen, Schwestern und Ärzte im kleinen Kreis zusammen. Besonderer Wert werde auf Schwangeren-Freundlichkeit gelegt. Die nächsten jenseits der Grenze befänden sich in Saarbrücken und in Charleroi. Modelle dieser Art treffen anscheinend in Luxemburg nicht nur unter Hebammen, sondern auch unter Ärzten auf Zustimmung. Doch hier ist der Spitalplan vor: "Unsere Absicht", sagt Claude A. Hemmer, Erster Regierungsrat im Gesundheitsministerium, "ist doch die Bündelung von Kompetenzen in den Kliniken und nicht eine weitere Aufsplitterung."

 

Eine radikale Wende ist demnach unwahrscheinlich. Diskusionen über das Krankenkassenbudget müssten die Folge sein, und da liegt die Infragestellung der Versichertenbeiträge nicht weit, worauf Gewerkschaften und Patronat höchst sensibel zu reagieren pflegen. Und wann immer in der Nomenklaturkommission der UCM das Thema Geburtenmedizin erörtert wurde, meinten die Sozialpartner, das bestehende System sei eigentlich in Ordnung.

 

Immerhin gibt es eine Evolution. Und weder der Hebammenverband noch die Initiativ Liewensufank wollen Geburtenstationen und Gynäkologentätigkeit per se verteufeln: "Es nehmen auch immer mehr Ärzte bewusst Abstand von einem Interventionismus", stellt Co-rinne Lauterbour-Rohla fest, "wenn auch nur ganz langsam." Allmählich würden viele Kliniken sich Methoden öffnen, die noch vor Jahren noch nicht ins Schema passten: die Entbindung in einer anderen Position als der liegenden werde häufiger angewendet, in der Maternité des Centre hospitalier sei auch die Entbindung im Wasser möglich, die in vielen Fällen als besonders schmerzarm gilt. Im Herbst will die Initiativ Liewensufank eine Broschüre herausbringen, die detailliert den Ausstattungsgrad und die Methodik der einzelnen Maternités auflistet.

 

Aufgeklärtere Schwangere dürften den Ärzten nicht unrecht sein. Mindern sie doch das Risiko von Komplikationen. Zwischen dem Gesundheits- und dem Sozialministerium wird  unterdessen diskutiert, auch Hebammen die Abrechnung von Untersuchungen bei den Krankenkassen zu gestatten. Womöglich der erste Schritt zu jenem Zustand, den Joseph Mersch sich aus seiner Position des erfahrenen Beobachters wünscht: einen modus vivendi für die Kooperation beider Berufsgruppen. Zum Besten der Kundinnen, wohlverstanden. Patientinnen kann man sie ja eigentlich nicht nennen.

 

Peter Feist
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