Das eigentliche Drama der Deutschen Bahn begann 1994. Damals wurde – wie in vielen europäischen Ländern – die Bahn privatisiert und die Deutsche Bahn AG gegründet. Zwar blieb sie zu hundert Prozent im Besitz des Bundes, doch das Ziel war, das Unternehmen „fit“ für einen Börsengang zu machen, der spätestens 2006 erfolgen sollte. Es war die Hochzeit des blinden Glaubens an die Kräfte des Marktes. Auf EU-Ebene wurden mehrere Reformpakete verabschiedet, die einerseits technische Standards vereinheitlichen sollten, andererseits aber auch die alten Staatsbahnen reformieren sollten, in der Hoffnung, Konkurrenz würde das Geschäft beleben. In allen Ländern wurden die Netze von den Betreibergesellschaften getrennt oder zumindest entkoppelt. Es entstanden neue Netzgesellschaften, die in der Regel jedoch selten über die nötigen Finanzmittel verfügten, um die alten Gleisanlagen zu modernisieren oder die Netzkapazitäten zu vergrößern.
Absoluter Vorreiter war Großbritannien: Dort begann die Privatisierung bereits in den 1980er-Jahren unter Margaret Thatcher, vollendet durch Premierminister John Major in den 1990ern. Ziel: die Bahn billiger, zuverlässiger und pünktlicher zu machen. Das Gegenteil trat ein: Profitmaximierung und shareholder value standen über dem öffentlichen Auftrag. Das Netz wurde ausgedünnt, Investitionen verschleppt. Da ohnehin schon ein Investitionsrückstand bestand, führte dies zu massiven Sicherheitsproblemen. Mehrere katastrophale Unfälle besiegelten das Schicksal von Railtrack, der privaten Netzgesellschaft. 2002 wurde das britische Schienennetz de facto wieder verstaatlicht – in einem erbärmlichen Zustand, mit noch größerem Investitionsrückstand und den teuersten Ticketpreisen Europas. Heute hat die britische Labour-Regierung entschieden, auch die Betreibergesellschaften wieder in staatliche Hand zu überführen. Über 40 Jahre neoliberale Schienenpolitik enden – die finanziellen und gesellschaftlichen Kosten dieses Scheiterns sind immens.
Auch in Deutschland wurde das Projekt eines Börsengangs endgültig mit der Finanzkrise 2008 beerdigt. 2025 wurde zudem der Logistikbereich DB Schenker für 14,7 Milliarden Euro an den dänischen DSV-Konzern verkauft. Dieses Geld sollte helfen, die Verschuldung des DB-Konzerns zu reduzieren. Gleichzeitig schrumpfte das deutsche Schienennetz: von 44 600 Kilometer im Jahr 1994 auf nur noch 39 200 Kilometer heute, nach den Berechnungen der Allianz pro Schiene. Vor allem in Ballungsräumen entstanden verkehrspolitische Flaschenhälse, im Regionalverkehr erhebliche Lücken in der Fläche. Doch gerade heute steigen die Fahrgastzahlen und auch der Schienengüterverkehr ist im Aufwind. Laut Pro Schiene sind in Deutschland noch nie so viele Menschen mit der Bahn gefahren wie heute: „Die Verkehrsleistung im Personenverkehr stieg bis 2023 auf über 100 Milliarden Personenkilometer, im Güterverkehr 2022 auf über 127 Milliarden Tonnenkilometer. Während der Schienenverkehr boomt, hat Deutschland das Netz über Jahrzehnte verkleinert – und nicht ausreichend modernisiert.“
Die Konsequenz: überlastete Strecken und notorische Flaschenhälse. „Während 2008 nur 187 Kilometer des Bundesschienennetzes (Gesamtlänge 33 400 Kilometer Stand 2023) als überlastet galten, sind es 2025 schon 1 321 Kilometer. Verspätungen und Zugausfälle sind die Folge“, schreibt Pro Schiene.
Dabei ist klar: Eine Bahninfrastruktur benötigt vorrangig öffentliche Investitionen. Luxemburg hat es anders gemacht. Während seines EU-Ratsvorsitzes 2015 konnte das Land im Rahmen des 4. EU-Eisenbahnpakets entscheidende Änderungen durchsetzen, um staatliche Investitionen in Schieneninfrastruktur zu ermöglichen. Luxemburg investiert seit über zehn Jahren jährlich rund 500 Euro pro Einwohner in den Ausbau seines Netzes – europäische Spitzenwerte, sogar vor der Schweiz. Heute ist das gesamte luxemburgische Netz mit dem europäischen Sicherheitssystem ETCS ausgerüstet, große Umschlagbahnhöfe wurden umgesetzt, sind im Bau oder in Planung, Netzengpässe werden beseitigt. Ohne diese staatlichen Investitionen hätten die CFL niemals riskieren können, für 400 Millionen Euro neues Zugmaterial zu beschaffen. Es war die größte Anschaffung von neuem Zugmaterial in der Geschichte der CFL. Kein Betreiber – ob öffentlich oder privat – investiert in Fahrzeuge, wenn unklar ist, ob die Infrastruktur Schritt hält.
Das Gleisnetz ist für die Bahn, was Straßen für den Autoverkehr sind. Niemand käme auf die Idee, die Autoindustrie müsse den Straßenbau selbst finanzieren. Es war stets selbstverständlich, dass Straßeninfrastruktur von der Allgemeinheit getragen wird. Bei der Bahn jedoch wurde staatliche Finanzierung jahrzehntelang als „zu teuer“ und „ineffizient“ verteufelt. Mit ideologischen Argumenten wurde die Schiene abgebaut – mit fatalen Folgen: Klima- und Energieprobleme, Flächenfraß, Staus, eine Verschandelung urbaner Räume und eine spürbare Verschlechterung der Alltagsmobilität.
Heute ist klar: Ein leistungsfähiges Bahnnetz ist notwendiger denn je – und es muss öffentlich finanziert werden. Europa braucht langfristige, substanzielle Investitionspläne in die Schieneninfrastruktur. Ohne massive öffentliche Gelder wird es kein gutes Bahnnetz geben, und ohne gutes Bahnnetz können auch die besten Betreiber kein attraktives Angebot schaffen.
Dies gilt noch mehr für andere Bereiche des Zugverkehrs, wie beispielsweise das Entwerfen und Produzieren von neuem Zugmaterial oder die Schaffung von neuen Dienstleistungen. Im Vergleich zu anderen Verkehrsmitteln wie Flugzeugen bieten Züge viel Raum. Und dies nicht nur, um komfortablere Sitzmöglichkeiten zu schaffen. Auch Infotainment und Verpflegung könnten in Zugabteilen einfacher und besser angeboten werden, als auf wenigen Quadratmetern in der Luft. Doch die Innovation in der Produktion von Zugmaterial verläuft schleppend. Sowieso gibt es in Europa zu wenig Produzenten. Alstom in Frankreich, CAF in Spanien, Siemens Mobility in Deutschland und Stadler in der Schweiz dominieren den europäischen Markt. Gerade dort, wo Marktkonkurrenz die Innovation beleben könnte, beherrschen alte Monopolisten die Szene. Neue industrielle Akteure werden nur auf dem Markt erscheinen, wenn langfristig eine Perspektive für Zugverkehr garantiert ist. Angebot kann aber nur entstehen, wenn die Infrastruktur auch genügend freie Kapazitäten anbietet und die Eisenbahnnetze in einem guten Zustand sind.
Die EU-Kommission wird bald einen ambitionierten Plan für ein Netz schneller Verbindungen zwischen allen europäischen Metropolen vorlegen. Damit dies gelingt, müssen alle Mitgliedstaaten Finanzmittel bereitstellen. Im Vorschlag des neuen mehrjährigen Finanzrahmens der EU-Kommission wurden die Mittel für den „Connecting Europe Facility“-Fonds mit 51,1 Milliarden Euro bereits gegenüber dem aktuellen Plan verdoppelt – nun gilt es, diese Mittel zu sichern und möglichst noch zu erhöhen.
Die Eisenbahnnetze müssen zum Rückgrat einer effizienten, nachhaltigen Mobilität werden. Dafür braucht es nicht nur gute Manager, sondern vor allem Politikerinnen und Politiker, die den Mut haben, in eine echte Verkehrswende zu investieren. Denn Mobilität ist im 21. Jahrhundert weit mehr als nur Fortbewegung – sie ist der Schlüssel zu gesellschaftlicher Teilhabe, wirtschaftlichem Erfolg und zum Schutz unseres Klimas.