Wer heute an Monarchie denkt, denkt an Dynastien, Blutlinien und ewige Kontinuität. Historisch war das keineswegs selbstverständlich. In vielen vormodernen Gesellschaften war der König kein ewiger Herrscher, sondern ein „Spielkönig“: für kurze Zeit erhoben, um ebenso rituell wieder entmachtet zu werden. Herrschaft war dort kein Naturgesetz, sondern ein Rollenspiel – ernst genug, um Macht zu verkörpern, und flüchtig genug, um sie zu entkräften. Die Anthropologen David Graeber und David Wengrow haben in ihrem monumentalen Werk Anfänge – Eine neue Geschichte der Menschheit (2021) gezeigt, dass prähistorische Gesellschaften Macht nicht als feste Struktur kannten, sondern sie bewusst zwischen verschiedenen Formen wechselten. Oft folgte dieser Rhythmus den Jahreszeiten: Im Winter, wenn Menschen in größeren Gemeinschaften zusammenrückten und Vorräte verwaltet werden mussten, entstanden hierarchische Strukturen, manchmal mit einer Art „Winterkönig“, der für diese Phase Autorität beanspruchte. Mit dem Sommer jedoch lösten sich diese Strukturen auf: Die Gruppen zerstreuten sich, lebten wieder egalitärer, ohne festen Herrscher. Herrschaft war so kein Dauerzustand, sondern eine Funktion der Umstände. Diese Fähigkeit, Herrschaftsformen bewusst zu wechseln, zeigt, dass Machtgefüge nie endgültig waren. Die dynastische Monarchie hingegen ist die Verfestigung der saisonalen Herrschaftsformen – ein Ritual der Unterbrechung, das zu einer dauerhaften Ordnung erstarrte.
Im europäischen Mittelalter lebte davon ein Echo fort. Der Lord of Misrule in England oder die Abbots of Unreason in Schottland verkörperten für kurze Zeit die Umkehrung: Bauern kommandierten Herren, Kinder verspotteten Erwachsene, Priester wurden zum Gespött – nicht aus bloßer Lust an der Verstellung, sondern als öffentlich inszenierte Umkehrung der Verhältnisse. Für wenige Tage stand die Welt Kopf, und gerade darin lag die Botschaft: dass soziale Rangordnungen nichts Naturgegebenes waren, sondern Rollenspiele, die man ebenso gut anders besetzen konnte. Dieser Gedanke lebte auch im uns bekannten Karnevalsfest fort, als blasses Andenken an die Saisonalität der Macht. Der historische Karneval stellte das Machtgefüge nicht nur dar, er setzte es für einen Augenblick außer Kraft und erinnerte die Gemeinschaft daran, dass jede Hierarchie letztlich auf Zustimmung und Wiederholung beruht. Hier wird deutlich, dass die Monarchie ursprünglich kein dynastisches Projekt war, sondern eine Inszenierung der Unterbrechung – ein Schauspiel, das die Macht sichtbar machte und zugleich relativierte.
Luxemburgs eingefrorener Karneval
Heute wirkt die luxemburgische Monarchie freilich wie ein Karneval, der nie zu Ende ging – aber auch nie mehr beginnt. Der Großherzog „herrscht“ nicht, er unterschreibt Gesetze, hält Reden, winkt von Tribünen. Er ist ein Überbleibsel einer Symbolik, die längst leerläuft. Das Problem ist dabei eigentlich nicht seine Machtlosigkeit, sondern die Erstarrung der Form. Wo die Monarchie einst Umkehrung, Unterbrechung und Neuschöpfung symbolisierte, bleibt heute nur höfisches Protokoll. Luxemburg feiert eine Krone, die nichts mehr ins Wanken bringt – außer vielleicht die Köpfe derer, die sich fragen, wofür das alles noch gut sein soll. Man könnte sagen: Der Großherzog ist ein Spielkönig, der vergessen hat, dass er ein Spielkönig ist – und genau darin liegt das Traurige.
Deshalb bietet sich ein radikaler Gedanke an: Wenn die Monarchie ohnehin entkernt ist, warum sie nicht zurückführen zu ihrer ursprünglichen Form – und die Krone regelmäßig verlosen? Das klingt provokant, hat aber tiefere historische Wurzeln.
Schon im antiken Athen wurden zentrale Ämter durch Los vergeben. Der belgische Historiker David Van Reybrouck hat in Gegen Wahlen (2016) betont, dass das Losverfahren keine Kapitulation vor dem Zufall ist, sondern Ausdruck egalitärer Logik: Alle Bürger haben die gleiche Chance, Verantwortung zu tragen. Van Reybrouck denkt dabei vor allem an Bürgerräte, die kollektiv entscheiden und durch institutionelle Verfahren gestützt sind. Überträgt man seine Idee auf den luxemburgischen Kontext, ergibt sich eine andere, aber nicht minder konsequente Anwendung: Nicht die Politik, sondern die Monarchie – jenes rein symbolische Amt, das heute nur noch Kulisse ist – könnte doch ausgelost werden.
Natürlich wäre hier der Unterschied, dass nicht ein Gremium von vielen, sondern eine einzelne Person bestimmt würde, die in repräsentativen Funktionen nach außen und innen auftritt. Das wirft unweigerlich die Frage nach dem institutionellen Rahmen auf, der eine solche Rolle tragen würde. Doch dieser Rahmen existiert längst: Seit der Schaffung der Maison du Grand-Duc ist das Amt organisatorisch eingebettet, mit eigenem Personal, Protokoll und Verwaltung – vergleichbar mit einem Ministerium, das unabhängig davon funktioniert, wer an seiner Spitze steht. Der geloste Monarch stünde also nicht ungestützt da, sondern würde von einem eingespielten Apparat getragen, der Kontinuität und Professionalität gewährleistet. Seine Aufgabe wäre nicht, Politik zu machen, sondern das zu verkörpern, was ohnehin schon längst symbolisch ist.
Das Los würde keine reale Macht verteilen, aber es würde die Symbolik demokratisieren: Die Krone wäre nicht länger das Vorrecht einer Familie, sondern das sichtbare Zeichen, dass jede und jeder Teil des Spiels ist. Der Monarch wäre dann nicht Erbe einer Linie, sondern Verkörperung der Gemeinschaft – gewählt vom Zufall, getragen von allen.
Subversion neu inszenieren
Die eigentliche Kraft des vorzeitlichen Spielkönigs lag nicht in der Pose des Herrschens, sondern in seiner Absetzung. Er verkörperte das Wissen der Gemeinschaft, dass keine Ordnung selbstverständlich ist. Eine geloste Monarchie könnte genau daran anknüpfen. Sie würde nicht nur ein Amt verteilen, sondern regelmäßig den symbolischen Boden unter der Gesellschaft aufreißen – und sichtbar machen, dass die Krone niemandem gehört. Der Mehrwert eines solchen Rituals liegt gerade in dieser Unterbrechung: Es würde verhindern, dass die Monarchie endgültig versteinert, und die Gesellschaft daran erinnern, dass ihre Ordnung menschengemacht ist. Und vielleicht ginge die Wirkung noch weiter. In einer Zeit, in der demokratische Politik vielen als abgekapselt und unerreichbar erscheint – als System, in dem sich „eh nichts ändert“ – könnte gerade ein solches Ritual die Idee von Veränderung und Teilhabe zurück ins Zentrum rücken. Die ausgeloste Monarchie wäre nicht Politik im engen Sinn, wohl aber ein starkes Symbol gegen politische Resignation: Sie würde daran erinnern, dass auch das scheinbar Unverrückbare beweglich bleibt. Die Monarchie bliebe so nicht Monument der Dauer, sondern Ritual der Erneuerung.
Luxemburg müsste sich dafür von einer bestimmten Tradition lösen – jener der dynastischen Vererbung. Doch was legitimiert eigentlich, dass ein einziges Geschlecht dauerhaft Anspruch auf ein Amt erhebt, das längst nur noch Symbol ist? Und weshalb sollte gerade die Zufälligkeit der Geburt mehr wiegen als die Zufälligkeit des Loses? Eine geloste Monarchie wäre kein Bruch mit der Idee der Krone selbst, wohl aber mit dem Grundsatz, dass sie an eine einzige Familie gebunden ist. Gerade darin läge ihre Kraft: Sie würde das Symbol nicht abschaffen, sondern radikal neu deuten – nicht als starres Erbe, sondern als sich erneuerndes Zeichen gemeinschaftlicher Zugehörigkeit. Die Krone wäre dann nicht länger ein Erbstück, das von Generation zu Generation weitergereicht wird, sondern ein Symbol, das sich im Rhythmus der Gesellschaft selbst bewegt. Jede neue Auslosung würde die Zugehörigkeit neu inszenieren, indem sie deutlich macht: Nicht das Blut, sondern die Gemeinschaft stiftet das Band, das den Monarchen trägt. Gerade in dieser wiederholten Geste des Übergebens läge ihre Bedeutung – nicht Dauer um der Dauer willen, sondern beständige Erneuerung durch Teilhabe. Damit würde Luxemburg eine Praxis aufgreifen, die älter ist als jede Dynastie.
Die Anthropologie erinnert uns daran, dass Menschen seit Jahrtausenden ihre Herrschaftsformen wechseln konnten wie die Jahreszeiten. Eine geloste Krone wäre nicht Utopie, sondern Erinnerung: die Wiederaufnahme der ältesten aller politischen Spiele. Die Monarchie Luxemburgs ist heute ein Symbol ohne Bewegung. Doch Symbole lassen sich verändern. Eine ausgeloste Monarchie würde die Figur des Spielkönigs ernst nehmen – als Inszenierung von Macht und als Erinnerung an ihre Fragilität. Vielleicht wäre das größte Geschenk des Großherzogs an sein Volk, die Krone selbst in die Lostrommel zu werfen.