Es hatte am Sonntagmorgen aufgehört zu nieseln. Als der Mann in der Eisenbahn von Basel nach Bern fuhr. Mit der Regionalbahn weiter nach Kehrsatz. Ihm saßen rüstige Rentnerpaare gegenüber mit Rucksäcken, Wanderschuhen. Dann quälte sich das gelbe Postauto den Längenberg hinauf nach Zimmerwald. Die Voralpen schienen dem sonnigen Dorf, den saftigen Wiesen Schutzwall zu sein. Gegen die Welt, gegen Klimaveränderung, Faschismus, Krieg.
Zwischen 1900 und 1912 erhöhte Deutschland den Militärhaushalt um 67 Prozent, Frankreich um 51 Prozent, Russland um 94 Prozent, Österreich-Ungarn um 81 Prozent (Jörn Leonhard, Die Büchse der Pandora, München, 2014, S. 40). Im Herbst 1912 drohte der Balkankrieg zum Europakrieg, zum Weltkrieg zu werden. Eilig rief die Zweite Internationale alle sozialistischen Parteien zusammen.
Am 24. November trafen 555 Delegierte aus 23 Ländern im neutralen Basel ein. Das Bulletin périodique du Bureau Socialiste International zählte drei aus Luxemburg auf: „1. J.-P. Probst, avocat-avoué, Luxembourg. 2. Jos Thom [sic], avocat-avoué, Luxembourg. 3. Robert Leibfried, étudiant, Schroudweiler [sic]“ (4. Jg., Nr. 10, S. 16). Tausende zogen mit Musik und Fahnen durch die Stadt. Der Friedenskongress im Volkshaus rief alle Arbeiterparteien auf, den großen Krieg zu verhindern.
Deutschland erklärte am 1. August 1914 Russland den Krieg. Am 2. August besetzte es Luxemburg. Die sozialistischen Parteien stimmten Kriegskredite. Die Arbeiterklasse wurde aufs Schlachtfeld geschickt. Die Zweite Internationale war bankrott. Das Baseler Volkshaus ist heute ein Boutique- und Designhotel.
Mitten im Ersten Weltkrieg fuhren 38 Sozialisten aus elf verfeindeten Staaten ins abgelegene Zimmerwald. Luxemburger waren nicht mehr dabei. „Die Delegierten scherzten selbst darüber, daß es ein halbes Jahrhundert nach der Begründung der Ersten Internationale möglich war, alle Internationalisten in vier Wagen unterzubringen.“ Erinnerte sich Leo Trotzki (Mein Leben, Berlin, 1930, S. 239). In der Pension Beau Séjour waren sie als Ornithologenkongress angemeldet. Einer der Vogelkundler war der im Schweizer Exil lebende Wladimir Iljitsch Lenin.
Am vergangenen Sonntag störte nur das Plätschern des Dorfbrunnens die Friedhofsstille in Zimmerwald. In der Ferne schob eine Frau einen Karren über die Wiese. Zwei Pferde trotteten hinterher. Später glitt ein Junge auf einem Elektroroller durch das Salzgässli. Hier heißt die ADR „Schweizerische Volkspartei“. Bei den Nationalratswahlen erhielt sie 40 Prozent der Stimmen in der Gemeinde.
Vom 5. bis 8. September 1915 diskutierten die letzten Internationalisten. Sie einigten sich auf das Zimmerwalder Manifest. 110 Jahre später scheint sich die Geschichte zu wiederholen: Nach dem Untergang der Sowjetunion, dem Aufstieg Chinas hat die Neuaufteilung der Welt begonnen. Binnen zwölf Jahren wurde selbst der Luxemburger Militärhaushalt um 396 Prozent erhöht. Um einige Krümel Beute abzubekommen.
Das Manifest warnt, dass alle „lügen“, die „behaupten, der Krieg diene der Verteidigung des Vaterlandes, der Demokratie, der Befreiung unterdrückter Völker“ (Berner Tagwacht, 18.9.1915). Der Krieg sei die Folge „des Strebens der kapitalistischen Klassen jeder Nation, ihre Profitgier durch die Ausbeutung der menschlichen Arbeit und der Naturschätze des ganzen Erdballs zu nähren“. Schwächere Nationen „fallen dabei der Unterjochung durch die Großmächte anheim, die in diesem Kriege versuchen, die Weltkarte ihrem Ausbeutungsinteresse entsprechend mit Blut und Eisen neu zu gestalten“.
In Zimmerwald galt die Pension Beau Séjour bald als verwunschenes „Lenin-Haus“. 1963 verbot das Baureglement Gedenktafeln. 1971 wurde die Pension abgerissen. Um vier Kundenparkplätzen der Ersparniskasse Rüeggisberg zu weichen. Am Haus gegenüber wirbt eine Tafel mit einem QR-Code für „Airbnb ZIMMERWALD Rosmarie Burri & Donato Boccardo. Direktbuchung“. Vielleicht buchen bald die nächsten Ornithologen.