Das kleine Strom-Chaos

d'Lëtzebuerger Land vom 01.11.2024

Wäre Gilles Roth noch in der Opposition und der Energieminister noch von den Grünen, hätte Roth sicherlich ein Fass aufgemacht wegen der neuen Stromnetztarife. Bis zu 300 Euro mehr im Jahr pro Haushalt ab 1. Januar! Wo doch dann auch nur noch der halbe Strompreisdeckel gilt, was weitere 300 Euro kosten könnte. Der Gaspreisdeckel entfällt ganz, so dass „Hëtzes“ teurer wird, und wer weiß, was mit den Preisen „op der Pompel“ noch passiert?

Doch Roth ist heute selber Minister, der Energieminister ist von der DP, und die grüne Ex-Ministerin Joëlle Welfring findet es „gerecht“, wenn mehr zahlen muss, wer besonders viel Strom auf einmal aus dem Netz zieht. Das ist es auch, und eine Einstimmung auf die Stromversorgung der Zukunft. Spitzenverbräuche senken zu wollen, oder dafür zu sorgen, dass sie in den nächsten Jahren möglichst selten werden, hat Sinn. Laut Schätzungen soll der Luxemburger Strombedarf von 6 000 Gigawattstunden, die in den letzten Jahren die Regel waren, auf 8 000 im Jahr 2030 und auf 10 000 im Jahr 2040 steigen. Wegen der allgemeinen Wachstumsaussichten, vor allem jedoch wegen mehr Elektroautos, Wärmepumpen und überhaupt dem tout électrique, der eine Hilfe bei der „Dekarbonisierung“ sein soll. Die Frage ist dann weniger, wo der zusätzliche Strom herkommt, sondern ob die Infrastruktur immer viel Strom zu führen und zu entnehmen erlaubt.

Das ändert aber nichts daran, dass die Kommunikation der neuen Regeln schlecht ist. Energieminister Lex Delles redete sich vorige Woche im Parlament damit heraus, dass die Regulierungsbehörde ILR die Netzentgelte festlegt, „ich greife da bestimmt nicht ein“. Das ILR aber kann zwei Monate vor dem Wirksamwerden der neuen Tarife noch nicht genau sagen, welche Auswirkungen in Euro welche Entnahme hätte, die über „Referenzleistungsstufen“ hinausgeht. Nur von „20 bis 30 Euro und 200 bis 300 Euro“ im Jahr ist die Rede, und dass sich für 80 Prozent der Verbraucher nichts ändere. Abgesehen davon rechnet das ILR noch.

Dabei ist der Ansatz, so zum Sparen anzuregen, nicht neu. Möglich wird er, weil nun jeder Verbraucher über einen „intelligenten Zähler“ verfügt. Er misst die Entnahme im Viertelstundentakt. Vor zehn Jahren, als der Einbau dieser Zähler begonnen hatte, erzählte der damalige LSAP-Energieminister Etienne Schneider, sie sollten der „Sensibilisierung und Aktivierung“ der Verbraucher dienen. Wer „mitmacht“, dem werde „entgegengekommen“. Wie, konnte Schneider damals noch nicht sagen, aber von 2014 bis 2024 war Zeit genug, um zu erklären, wo Luxemburg strategisch in der Energieversorgung hin soll und was mit „Sensibilisierung“ gemeint ist. Was weder unter dem grünen Energieminister Claude Turmes geschah, noch unter Lex Delles bisher. Stattdessen informiert nun das ILR: „Die regelmäßige Überschreitung der Referenzleistungsstufe ist völlig normal. Der zusätzliche Verbrauch wird dann einfach zu einem höheren Preis berechnet.“

Weil es nicht so „einfach“ ist, stellt sich nicht nur die Frage, ob die neuen Netztarife wirklich nicht die bestrafen werden, die in Elektroautos oder Wärmepumpen investiert haben, und jene, die sich keine per App fernsteuerbaren Waschmaschinen oder Trockner leisten können. Und wie sich der verkleinerte Strompreisdeckel auswirken wird. Hinzu kommt, dass die Gesamt-Stromrechnung ein Stück niedriger werden könnte. Etienne Schneider dachte seinerzeit nicht in erster Linie an eine „Sensibilisierung“ durch höhere Netzkosten bei Spitzenentnahme. Sondern daran, dass die Energieversorger, gestützt auf Daten aus den neuen Zählern, zu bestimmten Uhrzeiten Strom preiswerter anbieten könnten. Was mit dem Netz nichts zu tun hätte. Seit ein paar Monaten gibt es die ersten „dynamischen Tarife“: Wer außerhalb der Spitzenzeiten viel verbraucht, bekommt diesen Strom billiger. Und anscheinend soll damit nicht Schluss sein. Encevo-CEO Claude Seywerth stellte am Montag im  im RTL-Radio „Time-of-use-Tarife“ in Aussicht und Apps, über die „ein ganz individueller“ Stromtarif abonniert werden könne. Wie all das zusammenspielen soll, ist dringend erklärungsbedürftig. Gilles Roth amüsiert es vielleicht, wie sich für den Kollegen von der DP ein kleines Strompreis-Chaos zusammenbraut.

Peter Feist
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