Präventivmedizin

Wer raucht und isst kein Obst?

d'Lëtzebuerger Land du 15.07.2004

Alle im neuen Parlament vertretenen Parteien hatten in ihren Wahlprogrammen für mehr Präventivmedizin plädiert. Die DP wollte die Sensibilisierungskampagnen verstärken und "gegebenenfalls" die präventive Diagnostik erweitern. Für die Grünen sollte Gesundheitsförderung politisches "Leitbild" werden, das "individuelles wie gesellschaftliches Fehlverhalten" thematisiert, Krankenkassenunion UCM und  Gesund-heitsministerium sollten gemeinsam "zügig" alle vorhandenen Krankheitsdaten auswerten und daraus Präventionsprogramme ableiten. Das ADR erkannte "Zivilisationskrankheiten" als Verursacher eines "Großteils unserer Gesundheitsausgaben", wollte eine permanente Gesundheitserziehung ab der Primärschule sowie eine "gezielte Präventionspolitik in den Bereichen Lebensweise, Essen, Trinken, Rauchen" einführen und versprach systematische Krebsvorsorgeuntersuchungen.

Auch CSV und LSAP, die demnächst wahrscheinlich die neue Regierung bilden werden, erwähnten die Prävention programmatisch. Die CSV versprach eine "Erweiterung" der Krebsvorsorge; die Früherkennung von Brustkrebs könne ergänzt werden um die von Darm- und Prostatakrebs. Gesundes Leben sollte stärker propagiert werden. Wie die CSV wollte auch die LSAP die Krankenkassen stärker zu "Gesundheitskassen" machen. "Wenn genügend Mittel für die Prävention vorhanden sind, wird sich dies mittel- bis langfristig für die Krankenkassen auszahlen", meinten die Sozialisten.

Am Mittwochnachmittag diskutierte die sozialpolitische Arbeitsgruppe der potenziellen Koalitionspartner auch über Prävention. Vor der Sitzung meinte CSV-Gesundheitsexperte Jean-Marie Haldorf, "wir sehen sie genauso global wie die LSAP", nach der Sitzung, dass beide sich darüber "weitgehend einig" seien. Mehr soll die Öffentlichkeit vorerst nicht erfahren.

Denn immerhin verabschiedete ungefähr gleichzeitig die Generalversammlung der UCM die Abschlussbilanz 2003, besprach das laufende Jahr und traf eine budgetäre Vorausschau für 2005 (siehe nebenstehenden Text). Ein erneutes Defizit von 100 Millionen Euro kündigt sich an. Und so kommt es nicht von ungefähr, dass bei UCM-Präsident Robert Kieffer Begriffe wie "mehr Prävention" oder "Gesundheitskassen" die Alarmglocke noch höherer Kosten läuten lassen. "Prävention ist gut, wenn sie die Lebensqualität der Bevölkerung erhöht", sagt der Versicherungsmathematiker, "aber sie bewahrt die Kassen nicht vor Defiziten. Im Gegenteil." Seine Analyse, die er den Sozialisten schon im Februar an einem von ihnen in Differdingen organisierten Rundtisch vortrug, ist die: Das Gros der Gesundheitsausgaben entstehe den Kassen etwa in den sechs Monaten vor dem Tod eines Versicherten. Präventivmedizin verhindere natürlich nicht den Tod. Vergrößere sie die Lebenserwartung, würden darüberhinaus noch mehr Versicherte noch älter als bisher - und konsumierten entsprechend mehr Leistungen. Denn abgesehen von den hohen Kosten kurz vor dem Sterben entstehen ebenfalls hohe Kosten dadurch, dass alte Menschen häufiger erkranken.

Dieses Argumentation halten sowohl Jean-Marie Halsdorf wie sein LSAP-Kollege Mars di Bartolomeo für "zu kurzfristig" gedacht. Verbessere man die Vorsorge, könnten mehr Menschen alt werden, ohne in der Zwischenzeit schwer zu erkranken und hohe Kosten zu generieren. Das will auch Robert Kieffer nicht aus-schließen. Vorausgesetzt, die Vorsorge setze schon im Kindesalter an.

Und damit entfaltet sich das Thema Prävention in seiner ganzen Komplexität. Primärprävention soll in der Gesellschaft Gesundheitsrisiken vermindern, Sekundärprävention schwere Krankheiten möglichst früh erkennen, Tertiärprävention eine ausgebrochene schwere Krankheit erträglicher machen. Um entscheiden zu können, wo angesetzt werden soll, müsste zunächst die Datenlage verbessert werden, meint Mars di Bartolomeo. Der Ansicht ist auch Jean Huss, gesundheitspolitischer Sprecher der Grünen: "Die Zusammenhänge von Umweltbelastungen und chronischen Erkrankungen, aber auch von beispielweise Übergewicht und Folgeerkrankungen sind bei uns noch viel zu wenig erfasst."

Tatsächlich gehört Luxemburg zu jenen drei der 52 Mitgliedstaaten der Weltgesundheitsorganisation, die keine laufende Berichterstattung über die "santé publique" unterhalten. Daten werden erhoben und ge-meldet, aber nur punktuell und im Rahmen gelegentlicher Einzelstudien werden Zusammenhänge hergestellt. Übergewicht und insbesondere regelrechte Fettleibigkeit zum Beispiel können zu Diabetes, Gelenkverschleiß, Herz-Kreislauferkrankungen und Depressionen führen. Einer 1997 erstellten Studie nach waren damals 26 Prozent der Luxemburger Bevölkerung übergewichtig und 9,2 Prozent fettleibig. Noch beunruhigender fiel eine im Schuljahr 2001/ 2002 an 12 810 Schülerinnen und Schülern im Sekundarunterricht vorgenommene Stichprobenanalyse aus: 13,5 Prozent der Mädchen und ebenso viele Jungen waren übergewichtig, 10,4 Prozent der Jungen und 8,3 Prozent der Mädchen fettleibig. Daraus folgt, dass die Zahl der "zu Dicken" in Zukunft noch stärker wachsen wird. Sie sei schon heute "deutlich höher" als etwa in Frankreich, weiß das Gesundheitsministerium. In den USA wird geschätzt, dass fünf bis sieben Prozent aller Gesundheitskosten unmittelbar auf Übergewicht zurückzuführen sind. In Finnland wurde vor zwei Jahren errechnet, dass aus Übergewicht resultierende Krankheiten zu 50 Prozent zur Frühverrentung beitragen. In Lu-xemburg fehlen solche Analysen. Dafür nahmen zwischen 1991 und 2001 die behandelten - und damit bekannten - Diabetesfälle zu. Waren 1991 noch zwei Prozent der Bevölkerung betroffen, waren es zehn Jahre später 3,2 Prozent. Und Herz-Kreislauferkrankungen waren laut der letzten veröffentlichten "Todesstatistik" im Jahr 2002 bei 1 443 von 3 671 Sterbefällen Ursache Nummer eins, ziemlich deutlich vor Krebserkrankungen in 942 Fällen.

Welche Rolle könnten Krankenkassen in einem solchen Zusammenhang spielen? - "Sie könnten einen Teil ihres Budgets für Präventivmaßnahmen reservieren", heißt es von der Ligue luxembourgeoise d'action médico-sociale. Der "Ligue", tätig beispielsweise in der Früherkennung von Lungenerkrankungen, in der Ernährungsberatung, der medizinischen Betreung an den Schulen und in Sensibilisierungskampagnen, fehlt es zur Ausweitung ihrer Aktivitäten an Personal, das heißt an Geld. Vorausgesetzt, die Kassen übernähmen die Finanzierung, könnte die "Ligue" in ihren landesweit verteilten Filialen auch check ups etwa sämtlicher ab 40-Jähriger anbieten - alle fünf Jahre vielleicht und zum Kostenpunkt von rund 500 Euro pro Patient. Damit könnte sich deren Eigenverantwortung erhöhen lassen.

Die Realisierung eines solchen Vorschlags, der im kleinen Kreis schon Premier Jean-Claude Juncker unterbreitet wurde, brächte freilich eine erhebliche Ausweitung des Krankenkassen-Leistungsspektrums in Richtung "Service" mit sich. Bisher finanzieren die Kassen an Präventivmaßnahmen zusätzlich zu den obligatorischen Schutzimpfungen das 1996 eingeführte Impfprogramm gegen Hepatitis B für Säuglinge und Jugendliche zwischen zwölf und 18 Jahren; die Meningitis-Impfung für Ein- bis 18-Jährige seit September 2001 und übernehmen seit 2001 auch die Kosten für alle Impfungen ab 65-Jähriger sowie verschiedener Risikogruppen. Nur noch das 1996 übernommene Mammografie-Programm zur Brustkrebsfrüherken-nung bei 50- bis 69-jährigen Frauen steht darüberhinaus noch für die Ausweitung der Versorgung allein im Krankheitsfalle auch in Richtung Vorsorge.

"An anderer Stelle wäre Prävention, sogar Primärprävention, viel leichter zu haben", meint Marie-Paule Prost, Direktorin der Fondation luxembourgeoise contre le cancer, "nämlich, wenn man den Tabakverbrauch einschränkt. Er ist der krebserregende Faktor Nummer eins." Von mehr Krebsvorsorgeuntersuchungen hält sie viel weniger als von einer drastischen Erhöhung der Tabakpreise, einer Ausweitung der Rauchverbote in der Öffentlichkeit und in den Betrieben sowie von einem absoluten Tabakwerbeverbot. Wurde doch schon 1981 durch den weltbekannten Epidemiologen Richard Petto nachgewiesen, dass in den USA und Großbritannien Rauchen alleinverantwortlich für 25 bis 40 Prozent aller Krebsfälle ist. Die von Petto im Sommer letzten Jahres an der Universität Oxford fertiggestellte Studie Mortality from smoking in developped countries 1950-2000 (www.ctsu.ox.ac.uk/) zeige für Luxemburg im Jahr 2000, dass über die Hälfte der 1 000 Krebstodesfälle hätten vermieden werden können, hätten die Betreffenden nicht geraucht. Zweiter wichtiger Punkt bei der persönlichen Krebsvorsorge sei vernünftige Ernährung: "Obst und Gemüse es-sen kann das Krebsrisiko nochmals um mindestens 20 Prozent senken."

Die große Steigerung der Krebstodesfälle komme erst noch, prohezeit Prost. "Und zwar, wenn auch bei uns, wie schon heute in den USA, Lungenkrebs die erste Krebstodesursache sein wird." Das wissen auch die politischen Parteien, die sich zurzeit über das Thema Prävention beugen. "Die Kosten für Chemotherapien in den Kliniken explodieren", sagt Jean-Marie Halsdorf. Doch auch Marie-Paule Prost weiß nicht nur, dass die Zahl der Raucher in Luxemburg ungeachtet der kontinuierlichen Tabakpreissteigerungen der letzten Jahre kaum abgenommen hat, sondern auch, dass in Ländern, in denen Tabakprodukte extrem teuer geworden sind, vor allem sozial Schwächere weiter rauchen, was zur Verarmung und zu neuen Risiken führt: "In Großbritannien sparen vor allem ärmere Raucher am Essen. In Frankreich beginnt das auch schon."

So dass die Gesundheitsdatenerhebung und die Präventionsdiskussion dort ansetzen müsste, wo die mit der Organisation von Sensibilisierungskampagnen Befassten mit ihren Botschaften besonders schlecht ankommen: bei den Lebensumständen je-nes zwölfprozentigen Bevölkerungsteils, der nach international verbindlicher Lesart in Luxemburg als von Armut bedroht gilt.

Aber vielleicht sind ja mehr "dépistage" sogar angesichts des kommenden Sachleistungsdefizits der UCM allem bisherigen Anschein zum Trotz dennoch politisch durchsetzbar: Wer dergleichen anbietet, könnte leichter höhere Eigenbeteiligungen der Versicherten fordern. Eigenbeteiligungen, wie sie die CSV in ihrem Wahlprogramm schon verklausuliert anklingen ließ.

 

Peter Feist
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