Im August 1865 warb eine Schobermessbude mit der Zurschaustellung einer „heiligen Kuh“. Für drei Sous Eintrittsgeld durften die Besucher ein Zebu bestaunen. Ein asiatisches Hausrind.
Zur gleichen Zeit breitete sich in Indien Gosamrakshana aus. Die Kuhschutzbewegung war gegen Muslime und die britische Kolonialbesatzung gerichtet. Hierzulande ging der Begriff „helleg Kou“ in den Sprachgebrauch ein. Zuerst um Hindus als abergläubig zu verspotten. Dann abschätzig für etwas Unantastbares.
Heute wird der Begriff in der Sozialpolitik benutzt. Unternehmerlobbys und ihre Leitartikler nennen den automatischen Index eine heilige Kuh. Zu Unrecht: Bei jedem Konjunktureinbruch organisiert die Tripartite ein Schlachtfest. Der Index wird seit über 40 Jahren manipuliert. Durch die Gesetze vom 1. Juli 1981, 8. April 1982, 27. Juni 2006, 8. April 2011, 31. Januar 2012, 29. Juni 2022.
Eine heilige Kuh scheint die gesetzliche Arbeitszeit zu sein. Die 40-Stundenwoche wird nun 50 Jahre alt. Arbeitszeitverkürzung sei „großer Blödsinn“ (Generalsekretär Romain Schmit vom Handwerkerverband, Wort, 24.9.2018). Sie sei „totalement à côté de la plaque“ (UEL-Präsident Michel Reckinger, RTL, 20.1.2023). In Frankreich beträgt die gesetzliche Wochenarbeitszeit 35 Stunden, in Belgien 38 Stunden.
Derzeit wird wieder eine heilige Kuh durchs Dorf getrieben: Die Beiträge zur Rentenversicherung. Die Beiträge von Beschäftigten, Unternehmern und der Staatszuschuss liegen bei je acht Prozent des Lohns. Der Beitragssatz wird nun 40 Jahre alt. Er wurde seit dem 1. Januar 1985 nicht verändert.
Seither wird immer wieder vor leeren Rentenkassen, einer drohenden Rentenmauer gewarnt. Nun ist es wieder so weit. Nach den Wahlen stellten CSV und DP fest, dass die Beiträge ab 2027 nicht mehr ausreichten, um die laufenden Renten zu bezahlen. Sie wollen die Rentenversicherung reformieren.
Im August verfassten die Unternehmervertreter im Wirtschafts- und Sozialrat ein Gutachten. Wie eine Rentenreform auszusehen hat: „Principe 1 : Agir sur le volet des dépenses [...] Principe 2 : Maintenir les taux de cotisations actuels“ (Avis CES Pension Contribution patronale, S. 4). Leistungskürzungen seien notwendig. Um eine Beitragserhöhung zu verhindern. Eine Beitragserhöhung „menacerait l’attractivité des talents, la compétitivité-coût des entreprises“ (S. 23).
Das Gutachten beschäftigt sich ausführlich mit dem „système de pension en comparaison internationale“ (S. 12). Es vergleicht die Bruttoersatzquote, das Rentnereinkommen, das Renteneintrittsalter, die Beschäftigungsquote, das Rentnervermögen, die Medianrente in der Europäischen Union. Nur die Unternehmerbeiträge zur Rentenversicherung vergleicht es nicht.
Laut Eurostat zahlen die Unternehmer in 22 von 27 Staaten der Europäischen Union höhere Sozialbeiträge als hierzulande. Nur in den neoliberalen Hochburgen Irland, Malta, Rumänien, Litauen sind die Beitragssätze niedriger.
Verdoppelte Luxemburg die „parts patronales“, erreichten sie gerade den Durchschnitt der Europäischen Union. Der Staat bezuschusst die Sozialversicherungen mit jährlich fünf Milliarden Euro. Ausländische Firmen mögen darin eine Marktverfälschung bei der „compétitivité-coût des entreprises“ sehen.
Die Beiträge zur Rentenversicherung sind prozentuale Anteile der Löhne. Steigen die Löhne, steigen die Beiträge. Reicht der Beitragssatz nicht mehr, könnte es an den Löhnen liegen: Sie stiegen inflationsbereinigt zu langsam. Für die eine Hälfte der Lohnabhängigen langsamer als beispielsweise die Produktivität. Für die andere Hälfte gibt es mangels Kollektivverträge oft gar keine Reallohnerhöhung. Vielleicht ist die heilige Kuh ein Goldenes Kalb.