Nichts scheint in westlichen Konsumgesellschaften so einfach verfügbar zu sein wie Sex. Doch selbst in unseren pluralistisch-sozial angepriesenen Gefilden hat nicht jede(r) Zugang dazu. Einige bleiben außen vor, werden institutionell eingeschränkt oder bevormundet, weil sie alt, behindert oder straffällig (geworden) sind.
Es sind Tabuthemen, die Renelde Pierlot in drei interaktiven Stücken in Voir la feuille à l’envers aufgreift. Das Bedürfnis gesellschaftlicher Randgruppen nach Sexualität behandelt sie in den drei voneinander losgelösten Einzelstücken auf ganz unterschiedliche Weise. Ein Blick hinter die Kulissen des Kapuzinertheaters bietet Einblicke in den mitunter entwürdigenden Alltag der Betroffenen. Ein doppelter Blick hinter die Kulissen gewissermaßen.
Die Zuschauer wählen Parcours A, B oder C und wissen nicht, was sie erwartet. Rundgang B etwa beginnt im Shop des Kapuzinertheaters; die Besuchergruppe wird durch den Hof zum Büro des Direktors des vermeintlichen Altenheims gelotst. Der Direktor, ein aalglatter Typ, gibt smarte Worthülsen von sich: „Die Menschlichkeit zuerst!“ oder: „Mens sana in corpore sano.“ Eine Werbebroschüre wirbt mit lächelnden Senioren für die Residenz. Weichgezeichnete Bilder fröhlicher Menschen, harmonische Naturaufnahmen und aseptische Sauberkeit versprechen „einen privilegierten Ort im Karussell des Lebens“. Der Direktor rattert Phrasen herunter, reicht den Gästen langstielige Mohrrüben zum Knabbern und verschluckt sich selbst fast, als ihm eine Frage nach Sexualassistenz gestellt wird. Eine potenzielle Kundin will wissen, ob dies im bunten Angebot des Seniorenheims mitinbegriffen sei. Ein Schlagabtausch an Worten. Die Sexualassistenz kenne man nicht, das heiße hier „intime Toilette“. Wenn es bezahlt sei, dann handele es sich um Prostitution, raunt der Direktor.
Weiter geht es durchs Treppenhaus, in dem harmonische Schwarzweiß-Aufnahmen von Senioren in Luxemburg hängen. Im Raum „Dolce Vita“ sitzt ein kleines Mädchen (Marguerite Raybaut mit einer unglaublichen Präsenz!) zusammengesunken in einem roten Sessel wie eine alte Frau mit überdimensionalen Pantoffeln, fragt nach einer Zigarette und monologisiert. Der hineinstürzende Pfleger (Baptise Hilbert) in weißer Kluft spricht laut mit ihr. Die Bevormundung und Infantilisierung älterer Menschen schreit einem förmlich entgegen. „Vorbei mit den Sperenzchen, wir gehen jetzt!“, herrscht der Pfleger die Patientin an und erklärt dem Publikum, dass man die Intimität der Person respektieren müsse, bevor er an dem kleinen Körper herumzerrt wie an einer Puppe... Die Kleine schreit, als man sie fallen lässt, singt irgendwann in sich versunken ein Kinderlied. „Ihr Traum?“, plappert der Pfleger dummdreist heraus: „Noch ein Mal Liebe machen!“ Auch der nächste Raum gleicht einer Puppenstube: In einem Miniatur-Krankenbett liegt ein verschrumpelter Kohl, der immer wieder weggedrückt wird und doch ständig aufpeppt; aus einer Stange Lauch wird irgendwann ein Gemüse-Smoothie gemixt und dem Publikum gereicht. Die Metapher des Gemüses zieht sich wie ein roter Faden durch das Stück übers Altern, der Ausdruck „devenir légume“ ist hier Programm.
Im Rundgang B wird man von den Toiletten des Kapuzinertheaters in eine Abstellkammer geleitet. Jean-Marc und Christine, beide aktiv in einer Behindertenrechtsvereinigung, sitzen mit dem Publikum in einem Kreis und erklären, was die Zuschauer heute Abend erleben würden, sei in Luxemburg illegal ... Sie hätten eine Tochter (sic! Eine Frau, sie ist bereits 18) mit einer Behinderung, und die wünsche sich Sex. In einer Plastikwanne wird ein sirenenhaftes Wesen hereingeschoben; die Eltern erklären das „Schweizer Modell“. Eine Sexualassistenz sei dort zwar legal, aber auf fünf Treffen pro Monat beschränkt.
Das Mädchen mit dem Sirenenschwanz rollt sich mit schäumendem Mund aus der Wanne und vollführt Kunststücke. Seht her, was sie kann! Wie süß! Die Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung: überhöht als Helden oder umsorgt und überbehütet, nur eben nicht normal. Zum Glück wird die Erfahrung der Sexualassistenz nicht an Eingeschränkten exemplifiziert, die Zuschauer erfahren sie selbst als Dienstleistung (www.corps-solidaires.ch), die eher etwas von einer Entspannungsmassage als von einem sexuellen Abenteuer hat. Doch bekommt man eine Ahnung davon, was es bedeutet, als Schwerbehinderter auf eine dritte (fremde) Person angewiesen zu sein, die Intimität zwischen zwei Menschen herstellt. Selbstbestimmung geht nicht ohne Fremdbestimmung! In einer Videoinstallation blickt man auf Unterwasservideos, während aus dem Off Menschen mit einer Behinderung von ihren Erfahrungen berichten. Wenn die Schauspieler am Ende klatschend Somebody to love von Jefferson Airplane singen, geht das unter die Haut.
Voir la feuille à l’envers beeindruckt nicht nur, weil es auf kreative Weise die Sexualität gesellschaftlich an den Rand Gedrängter und deren entwürdigende Behandlung aufgreift, sondern vor allem, weil Pierlot es mit ihren kreativen, experimentellen und humorvoll bis ins Groteske (Teil-)Inszenierungen vermeidet, die Betroffenen vorzuführen. Eine anhaltende diffuse Beklemmung verspürt der Zuschauer dennoch.