Das Museum der schönen Künste in Nancy enthüllt unschöne Seiten der Museumsgeschichte

Leichen im Keller

d'Lëtzebuerger Land vom 11.10.2024

„Die jeweils Herrschenden sind die Erben aller, die je gesiegt haben“, fand Walter Benjamin. „Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter“, notierte der Philosoph im Jahr 1940, als er auf der Flucht vor den Nazis war: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.“ Die Herkunft und Überlieferung von Kunstwerken und Museumsstücken könne man „nicht ohne Grauen bedenken.“ Benjamins Abhandlung „Über den Begriff der Geschichte“ dient in Nancy gerade als roter Faden für eine kleine Ausstellung mit dem provokanten Titel Müssen die Museen abgefackelt werden?.

Während unser Alltag zunehmend mit Bildern aller Art überflutet wird, gibt es in den Kunstmuseen immer mehr Texte zu lesen: Erläuterungen und ganze Studien zur Provenienzforschung, Archivalien zur Sammlungsgeschichte und Dokumentationen zum Hintergrund der Exponate. In Nancy zeigt das Musée des Beaux-Arts in Zusammenarbeit mit dem Musée Lorrain seit zwei Jahren in einem eigenen Raum so genannte Dossier-Ausstellungen, die jeweils der „kritischen und kontextuellen Neubetrachtung der Sammlungen“ gewidmet sind und eine „Reflexion über die Geschichtsschreibung und ihre politische Inanspruchnahme“ eröffnen sollen. Die aktuelle Schau soll die Funktion von Museen als „Herrschaftsinstrument“ offenlegen: Verschiedene „Formen von Gewalt und Macht-Asymmetrie“ werden am Beispiel der Französischen Revolution, des Kolonialismus im 19. Jahrhundert und der deutschen Besatzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg behandelt.

Das Kunstmuseum Nancy profitiert durchaus von Barbarei und Vandalismus im Gefolge der Revolution von 1789. Zunächst waren damals in Frankreich kirchliche Einrichtungen, der Königshof und viele Adlige enteignet worden, dann zogen französische Truppen plündernd durch Europa. Mit der Beute wurde in Paris das „Musée central des arts“ gegründet. Als die Räume im Louvre-Palast nicht mehr ausreichten, wurde Raubgut über das ganze Land verteilt: Im Jahr 1801 wurden 15 große Museen mit „enzyklopädischem und universellem Anspruch“ eröffnet - darunter auch das Musée des Beaux-Arts in Nancy. Aus gestohlenem Klosterbesitz kam die lothringische Hauptstadt zum Beispiel zu einem wertvollen Globuspokal des Züricher Goldschmieds Abraham Gessner.

Der Archäologe und Gelehrte Quatremère de Quincy protestierte schon anno 1796 gegen die Raubzüge: Wenn man ein Kunstwerk aus seinem Entstehungskontext herausreiße, verliere es sein Leben, seine Seele, seinen Sinn. Keine Nation, nicht einmal Frankreich, dürfe das Kulturerbe der Menschheit einfach einsacken und allein für sich beanspruchen. Diese Vorhaltungen hinderten seine Landsleute allerdings nicht daran, in Belgien und Italien mehrere Gemälde von Rubens und Barocci mitgehen zu lassen, die bis heute zu den Hauptwerken der Sammlung in Nancy zählen. Rückgabeforderungen aus Mechelen und Pesaro wurden bisher schlicht überhört.

Die Restitution afrikanischer Kulturgüter ist dagegen in letzter Zeit etwas in Schwung gekommen. In der Ausstellung werden Ausschnitte aus „Les statues meurent aussi“ gezeigt, einem Dokumentarfilm von Alain Resnais und Chris Marker aus dem Jahr 1953: Dass afrikanische Skulpturen in Paris nicht im Louvre, sondern im Anthropologischen Museum ausgestellt werden, sei ein Skandal; überhaupt seien westliche Museen für traditionelle afrikanische Kunst nur Friedhöfe. Wegen seiner antikolonialistischen Haltung war dieser Film in Frankreich bis 1964 von der Zensur verboten. Am 7. November soll er im Kunstmuseum in ganzer Länge gezeigt werden.

Im Kino Caméo in Nancy werden bis Februar 2025 parallel zu der Ausstellung noch drei Film- und Diskussionsabende zu Nazi-Raubkunst veranstaltet. In Frankreich hatte sich während des Zweiten Weltkriegs besonders Reichsmarschall Hermann Göring für seine private Sammlung in großem Stil am Besitz von Juden, Freimaurern und Oppositionellen bedient, mit Unterstützung des Vichy-Regimes. Vor dem Abtransport nach Deutschland wurde Görings Beute in Paris im Jeu de Paume zwischengelagert. Das Georges de La Tour zugeschriebene Gemälde Le Souffleur à la pipe konnte nach dem Krieg nach Nancy zurückgeholt werden. Bis heute warten aber in den französischen Nationalmuseen noch über 2.000 Kunstwerke auf eine Rückgabe an rechtmäßige Besitzer oder Erben.

Auf die Rolle von Museen in aktuellen Kulturkämpfen und -krämpfen geht die Ausstellung nicht ein. Welche Herrschaften entscheiden heutzutage über die Verbannung missliebiger Kunstwerke ins Depot, über den Umgang mit Relikten indigener Völker oder Gender-Sternchen in den Begleittexten? Neutrale Orte, fern von Kriegen und Ideologien, waren Museen jedenfalls noch nie.

Die Ausstellung Récits décoloniaux. Faut-il brûler les musées?
ist noch bis zum 1. Juni 2025 im Kunstmuseum Nancy zu sehen:
musee-des-beaux-arts.nancy.fr

Martin Ebner
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