Rifkin, Nachhaltigkeitsrat und Mouvement écologique hin oder her, Kapitalismus ohne Wachstum ist nicht möglich. Seit es ihn gibt, drängt ihn sein Akkumulationszwang, immer neue, bis dahin private, kostenlose oder öffentliche Bereiche der Gesellschaft und des Lebens zu durchdringen, zu Waren und Dienstleistungen zu machen und zu verkaufen. Parallel zur Globalisierung, zur äußeren Landnahme, treibt er seit den Achtzigerjahren mit verdoppelter und verdreifachter Energie die innere Landnahme voran: Mit atemberaubendem Einfallsreichtum dringt er auf bis kurz zuvor unvorstellbare Weise in kaum sichtbare Ritzen der Gesellschaft ein, weitet sie zu Spalten aus und übernimmt sie schließlich als Privatgeschäft, bis sich kaum noch jemand vorstellen kann, dass es einmal anders ging.
Von besonderer Raffinesse ist die nun laut gewordene Forderung nach der Abschaffung des Bargelds. Denn Geld ist selbstverständlich unumgänglich in einer Warengesellschaft, um den Tauschwert einer Ware zu beziffern und als universelle Ware den Tausch praktisch zu ermöglichen. Aber mit der Abschaffung des Bargelds soll ein Geschäft nicht mehr bloß entstehen, wenn eine Kundin im Laden dem Verkäufer einen Schein reicht, um eine Ware zu bezahlen, sondern die eine Sekunde lang dauernde Geste des Bezahlens selbst soll geoutsourct und zu einer gewerblichen Dienstleistung, als zweites Geschäft auf dem Geschäft werden. Wer ein Brot kauft, soll nicht mehr bloß das Brot bezahlen, sondern obendrein noch das Bezahlen bezahlen.
Ein großer Teil des Zahlungsverkehrs erfolgt heute bereits mittels Überweisungen, Kredit- und Debitkarten und damit gegen entsprechende Unkosten. Seit die Löhne und Gehälter nur noch auf Bankkonten überwiesen werden, zahlen viele Leute dafür, um bloß ihr hart erarbeitetes Bargeld in die Hand zu bekommen. Sogar bei der Selbstbedienung werden „Roaming-Gebühren“ fällig, wenn man sein Geld nicht am Automaten der eigenen Bank abhebt, sondern 200 Meter weiter oder im Nachbardorf am Geldautomaten einer anderen Bank. Wobei Leute mit niedrigen Einkünften unverhältnismäßig mehr als Besserverdienende zahlen müssen, weil sie dazu neigen, immer wieder 20 Euro abzuheben, für die sie jedes Mal 1,50 Euro Gebührenpauschale zahlen müssen, welche Leute nur einmal zahlen müssen, die es sich leisten können, in größeren zeitlichen Abständen 500 Euro abzuheben.
Heute nutzen Zehntausende Leute im Land Digicash von Post und Schalterbanken, um Kleinbeträge bargeldlos mit ihrem Handy zu zahlen. Ein Bäcker, der ein Croissant von zwei Euro verkauft, das mit Digicash bezahlt wird, muss sieben Cents an Digicash abführen. Verkauft er eine Sahnetorte von 20 Euro, muss er 1,55 Euro an Digicash abführen. So dass er diese Transaktionsgebühren auf den Preis seiner Waren schlägt, so wie die meisten Geschäfte die Kreditkartengebühren auf ihre Preise geschlagen haben, selbst wenn Kunden bar bezahlen.
Würde das derzeit von der öffentlichen Hand ausgegebene Bargeld restlos abgeschafft, wäre für jede, selbst die kleinste Transaktion das gewerbliche Zahlungssystem einer Bank, der Post, eines Handybetreibers, von Visa, Six, Digicash, Appel, Google oder einer anderen Firma nötig. Pech für Kinder, Bettler und andere Leute ohne Zugang zu elektronischen Konten. Anders als mit einem Geldschein von 20 Euro, für den man Waren von 20 Euro kaufen kann, kann man mit 20 elektronischen Euro vielleicht nur für 19 Euro kaufen, wenn man auch noch eni Euro Transaktionsgebühren abführen muss.
Auf jeder, selbst der kleinsten Transaktion würde eine Gebühr kassiert, die der Kunde direkt abführen oder indirekt durch eine Preiserhöhung des Verkäufers zahlen müsste. Wäre das Bargeld abgeschafft, wäre diese Gebühr nicht bloß der Preis einer frei gewählten Dienstleistung, sondern mangels Alternativen auch eine universelle Zwangssteuer, deren Eintreibung das Privileg einer Art privater Fermiers-généraux würde. Wenn der Preis jeder Ware um eine Kommission für den Zahlvorgang erhöht wird, führt die Abschaffung des Bargelds zu einer allgemeinen Preiserhöhung. Sie heizt die Inflation mechanisch an wie eine Mehrwertsteuererhöhung.
Die Abschaffung des Bargelds zielt darauf ab, schrittweise die drei klassischen Funktionen des Gelds selbst zu einem Geschäft zu machen. Das gilt nicht nur für das Bezahlen, sondern auch für die Wertaufbewahrungsfunktion des Geldes. Sie ist heute schon zum größten Teil gewerblich durchdrungen, da fast jeder Kleinsparer sein Geld, das er nicht zum Konsum benötigt, zur Bank bringt, und dafür zu einem Zinsfuß unter demjenigen bezahlt wird, zu dem die Bank das Geld anlegt. In Zeiten von Null- und Negativzinsen entsteht ein Problem, wenn der Bankkunde nicht nur inflationsbereinigt, sondern nominal weniger Geld zurückerhält, als er zur Bank gebracht hat. Statt Negativzinsen zu zahlen, ziehen die meisten Kunden es dann vor, ihr Geld aufzuheben und die Scheine zins- und gebührenfrei zu Hause aufzubewahren.
Um diese geschäftsschädigende Unart auszurotten, ist der nächstliegende Gedanke, das Bargeld abzuschaffen, so dass der Kunde sein Geld gar nicht mehr aufheben kann und gezwungen ist, es bei der Bank zu lassen, die ihm dann nicht nur auf seinen Schulden, sondern auch auf seinen Guthaben Zinsen abziehen kann. Das Gros der Kleinsparer kann es sich nicht leisten, als Ersatz für Bargeld das alte Geldmetall Gold zu kaufen, dessen Kurs zudem starken Schwankungen unterliegt. Auch der Kauf von Dollars oder Schweizer Franken, so lange diese als Geldscheine erhältlich sind, ist mit Unkosten und Wechselkursunsicherheiten verbunden. Besitzer größerer Geldsummen, die sie nicht rasch verfügbar halten müssen, haben dagegen andere Anlagemöglichkeiten.
Luxemburg hat eine lange Tradition mit Privatgeld. Erst durch die Einführung des Euro ließ es sich zu einem staatlichen Geldmonopol zwingen und war bis dahin eines der letzten Länder Europas, das einen Teil seiner Münzhoheit einer Privatbank überlassen hatte, der Banque internationale à Luxembourg. Es versucht im Interesse des Finanzplatzes, eine Vorreiterrolle bei der restlosen Kommerzialisierung des Bezahlvorgangs zu spielen, der Staat und die Universität fördern zu diesem Zweck mit öffentlichen Mitteln den Fintech-Bereich. Dabei stellen sie sich nicht nur in den Dienst der liberalen Variante von Visa, Digicash und Paypal, sondern auch der libertären, der virtuellen Währung wie Bitcoin, die mit ihren komplexen Verschlüsselungstechniken das gerade abgeschaffte Bankgeheimnis wieder einführen. Schon 1999 war die „elektronische Geldbörse“ Minicash geschaffen, doch mangels Kunden 2011 wieder eingestellt worden. Mit Hilfe von Mikrokrediten wirbt sogar die Großherzogin dafür, auch die Ärmsten in Afrika von der Subsistenzwirtschaft abzubringen und in die Geldzirkulation, das heißt die Warenwirtschaft, einzugliedern.
Wird das Bargeld schrittweise abgeschafft, steht der Finanzsektor vor der Herausforderung, wie sich nach dem Ende der verordneten Preise die dritte, dir Wertmessfunktion des Geldes privatisieren lässt. Aber vielleicht arbeitet der Paypal-Lehrstuhl der Universität schon an einer Lösung.