Wie die Heiligen Drei Könige mit ihren Gaben aus dem Morgenland standen der Parteipräsident, der Fraktionspräsident und selbst die Bürgermeisterin von Thionville am Samstag beim CSV-Kongress Schlange, um Jean-Claude Juncker Geschenke zu überreichen: kleine Päckchen in dunkelblauem oder bunt gestreiftem Geschenkpapier und selbstverständlich auch den großen Blumenstrauß für die stille Gemahlin im Schatten des großen Mannes. Fast ein Jahr nachdem ihn das Europäische Parlament zum Kommissionspräsidenten gewählt hatte, verabschiedete seine Partei Jean-Claude Juncker noch einmal, so als ob sie sich ständig vergewissern müsste, dass er wirklich fort ist. Und bei all den warmen Worten des Danks, der Sympathie und des Stolzes, die seine Parteifreunde ihm noch einmal mit auf den Weg gaben, schienen all die Vorwürfe vergessen, dass er jahrelang die Erneuerung der Partei blockierte und sie bei seinem beschämenden Sturz mit in die Niederungen der Opposition gerissen habe.
Der Ehrenstaatsminister bedankte sich ironisch für den verfrühten „Nachruf“, den auch der Ehrengast des Kongresses, Joseph Daul, auf ihn gehalten hatte. Dass der Wortschwall des Präsidenten der Europäischen Volkspartei, ein fülliger, stramm rechter Landwirt aus dem Elsass, kein Ende zu finden schien, war das einzige ungeplante Moment des Kongresses, der weiter über die CSV nach dem Abgang von Jean-Claude Juncker entscheiden sollte.
Und über die Zukunft der Partei brüteten rund 500 Christlich-Soziale meist fortgeschrittenen Alters unter einem riesigen Panoramafoto Grevenmachers im orangefarbenen Untergeschoss des Sport- und Kulturzentrums am Moselufer. Auch wenn an der Diskussion bloß ein halbes Dutzend Delegierte teilnahmen, darunter drei mandatierte Sprecher von Unterorganisationen. Im Namen von CSV-International beteuerte Stefano D’Agostino, dass die CSV, trotz ihres dreifachen Nein zum Referendum, „den Einwanderern nicht feindlich gesinnt“ sei. CSJ-Präsident Charel Hurt bedauerte aber, dass die Position zu den Referendumsfragen noch ohne die Parteibasis festgelegt worden sei.
Alle, die der CSV nach der Wahlniederlage und Jean-Claude Junckers Rückzug Chaos und blutige Abrechnungen prophezeiten, hatten sich getäuscht. Mit dem bei Marc Thewes und Marc Glesener bestellten internen Audit Perspektiven für eine moderne und lebendige Volkspartei. Reformpisten für die CSV hatte sich die Parteiführung die Kontrolle über die nach der Wahlniederlage absehbare Modernisierungsdebatte gesichert. Am Samstag ging es darum, diese Reformpisten ratifizieren zu lassen. Das taten dann einstimmig 312 Delegierte nach langatmiger Werbung für das neue CSV-Nachwuchsförderprogramm und acht neuen CSV-Foren, die zeigen sollten, dass sich die Parteileitung nicht bitten lassen musste, um die Modernisierung der Partei in Angriff zu nehmen.
Mit einer Resolution ließ sich die Parteiführung die Reformpisten und die Gründung von drei Kommissionen zu ihrer Umsetzung absegnen. Eine Kommission, die salomonisch von Ex-Mittelstandsministerin Françoise Hetto-Gaasch und dem für die Reformwilligen sprechenden Abgeordneten Serge Wilmes geleitet wird, soll bis zum Parteitag im Frühling 2016 die Grundsätze der Partei aktualisieren, um ihre Identität gegenüber der Konkurrenz hervorzuheben. Die Kongressresolution nennt drei Punkte, die nicht in Frage gestellt werden sollen: „das christliche Menschenbild“, die Positionierung als „Partei der soziale[n] Mitte“ und als „Europapartei“.
Auffälligerweise zählt die zuletzt vom LCGB hochgehaltene christliche Soziallehre nicht mehr zu den „Essentials“. Den Vorschlag des ehemaligen Nationalvorstandsmitglieds Guy Modert, nicht nur „Partei der sozialen Mitte“ zu sein, sondern sich auf die christliche Soziallehre zu berufen, blockte Generalsekretär Laurent Zeimet rasch mit dem Einwand ab, man soll es der zuständigen Kommission überlassen zu definieren, wo in der sozialen Mitte das christliche Menschenbild steht. Doch vielleicht will die Volkspartei sich gar nicht eindeutig zwischen christlicher Soziallehre und Rechtsliberalismus, zwischen Joseph Bech und Pierre Dupong, zwischen Quadragesimo anno und Steuer-Rulings entscheiden.
Eine andere Kommission unter dem Vorsitz von Generalsekretär Laurent Zeimet und dem Nachwuchstalent aus dem Ostbezirk, Stéphanie Weydert, soll bis zu einem außerordentlichen Kongress im Dezember neue Parteistatuten vorschlagen, die auch dem Umstand Rechnung tragen, dass sich die Dauerregierungspartei vorübergehend in der Opposition befinden kann. Ziel ist es, die Gremien zu erweitern, um mehr Mitglieder an den Personal- und Sachentscheidungen zu beteiligen, und Schlichtungsprozeduren vorzusehen. Wenn dann auch noch der „konkrete Zeitplan“ für die Einführung „der paritätischen Besetzung von Gremien und Kandidatenlisten“ beschlossen wird, sieht die alte Tante CSV zusammen mit der Lénk und den Grünen wie eine der modernsten Parteien des Landes aus.
Die einzige wirkliche Meinungsverschiedenheit des Kongresses betraf die wichtigste Frage: wie die CSV künftig ihre Spitzenkandidaten designieren soll, das heißt, wer über die Nachfolge von Jean-Claude Juncker entscheidet. Bisher funktionierte die Bezeichnung des Spitzenkandidaten so demokratisch und transparent wie der Nassauische Erbverein und damit politisch höchst effizient. Doch ist sich der Nationalvorstand einig, dass jetzt als Zugeständnis an den Zeitgeist eine entsprechende Prozedur in den Statuten erwähnt werden muss. Er lehnte aber wegen ihres unberechenbaren Ausgangs eine Urabstimmung unter sämtlichen Mitgliedern ab.
Deshalb wollte der Nationalvorstand gleich vollendete Tatsachen schaffen und hatte nebenbei in den Resolutionsentwurf geschrieben, „die Bestimmung [von] Spitzenkandidaten soll den Delegierten der Kongresse oder eines Konvents vorbehalten bleiben“. In der Opposition seien Primaires vielleicht schön und gut, meinte Generalsekretär Laurent Zeimet, aber in der Regierung seien sie wohl kaum einem amtierenden Premierminister zuzumuten.
In ihren Reformpisten sprachen sich auch Marc Thewes und Marc Glesener für „minimale prozedurale Vorgaben“ zur Bestimmung des Spitzenkandidaten aus, lehnten aber „Primärwahlen“ unter dem Vorwand ab, dass dadurch „die Listen der CSV durch eine Wahlkommission verkündet würden, statt publikumswirksam auf einem Kongress“. Doch die Meinungen gehen auseinander: Auf den Bezirksversammlungen zum Studium dieser Reformpisten wollte der Nordbezirk, dass „der nationale Spitzenkandidat vom Nationalvorstand bestimmt“ wird. Der Ostbezirk wollte die informelle Praxis der Werner, Santer und Juncker nicht missen und schlug vor, ganz flexibel „mehrere Szenarien zu ermöglichen“, und auch der Südbezirk fand, dass der ideale Spitzenkandidat sich „im Laufe der Legislaturperiode herauskristallisieren“ soll. Der Zentrumsbezirk verlangte irgendeine Prozedur, die „mindestens eineinhalb Jahre vor den Wahlen abgeschlossen sein“ soll. Nur die CSJ sprach sich vor 14 Tagen auf ihrem Nationalkongress klar für „la tenue d’élections primaires accessibles à l’ensemble des membres“ aus.
Für die Reformwilligen in der Parteijugend und der aus der Öslinger Parteijugend hervorgegangenen Dreikönigsgruppe ist die Nominierung des Spitzenkandidaten inzwischen zur wichtigsten Forderung geworden, mit der sie die Pläne der drei neuen starken Männer der Partei, Präsident Marc Spautz, Fraktionspräsident Claude Wiseler und Generalsekretär Laurentz Zeimet, für die Juncker-Nachfolge durchkreuzen wollen. Derzeit die besten Aussichten hat Fraktionspräsident Claude Wiseler, dem es auch vergönnt war, die tagespolitische Ansprache des Kongresses zu halten. Doch hinter dem Namen und der Prozedur verbirgt sich die Frage nach den Kriterien bei der Bestimmung eines Spitzenkandidaten: Soll er beispielsweise als leutseliges Symbol einer breiten Volkspartei die meisten Wählerstimmen sichern oder soll er die Interessen eines einflussreichen Parteiflügels als künftiger Premierminister vertreten?
Deshalb brachte der Abgeordnete Serge Wilmes im Namen der reformwilligen Jugend einen Änderungsantrag ein, um jenen Satzteil aus der Resolution zu streichen, der den Delegierten die Wahl des Spitzenkandidaten vorbehalten soll, und verlangte stattdessen, dass die „von den Bezirken und Unterorganisationen vorgeschlagenen, unterschiedlichen Nominierungsprozeduren“ erst einmal „geprüft werden“ sollen. Das hieß, wenigstens keine vollendeten Tatsachen zu schaffen. Um eine öffentliche Kampfabstimmung zu verhindern, die das Bild der geschlossenen Partei getrübt hätte, zog der Nationalvorstand es vor, die Entscheidung über die Nominierungsprozedur des Spitzenkandidaten aufzuschieben, und erklärte sich mit Wilmes’ Änderungsantrag einverstanden. Nun soll das Statutenkomitee bis zum Statutenkongress im Dezember abseits der Öffentlichkeit einen Kompromiss finden.