Jean-Claude Juncker, der unerschütterliche, Jean-Claude Juncker, der rostbeständige – so feierten manche Kommentatoren die einstimmige Wiederwahl des Luxemburger Staats- und Tresorministers an die Spitze der Eurogruppe Anfang der Woche. Seit 2005 leitet Juncker die Eurogruppe und es ist seine vierte Bestätigung im Amt. Also alles Routine? Nein. Denn Juncker steht unter Handlungsdruck, vielleicht mehr denn je, muss dazu noch gegenläufige Interessen unter einen Hut bringen. Die Franzosen rücken nicht ab von ihrer Forderung nach einer Wirtschaftsregierung für den Euroraum, als Gegenpol zum geldpolitischen Entscheidungszentrum der Europäischen Zentralbank (EZB). Für die Deutschen wiederum bleibt jegliche Beschneidung der Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit der EZB ausgeschlossen.
Allein auf seine langjährige Erfahrung und seinen Ruf als Vorzeige-europäer wollten sich die Kollegen diesmal anscheinend nicht verlassen. Zum ersten Mal legte Juncker vor der Entscheidung eine Art Wahlprogramm vor. Wie er selbst darin schreibt, auf ausdrücklichen Wunsch der Ministerkollegen. Die Wiederwahl zum Eurogruppenvorsitzenden als Trostpreis für das Amt des ständigen Ratsvorsitzenden, das Juncker verwehrt blieb, war demzufolge nicht selbstverständlich. In seinem Brief an die Ministerkollegen, den Juncker vergangene Woche mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy abstimmte, versucht der Luxemburger, den Ansprüchen der Franzosen nachzukommen, ohne den Deutschen auf die Füße zu treten. Er fordert eine bessere Koordination der Haushaltspolitiken und die Vorlage spezifischer Ausgangsstrategien aus der jeweiligen budgetären Schieflage der Mitgliedstaaten. Aber nicht nur. Juncker will eine breitgefächerte wirtschaftliche Überwachung durchsetzen und dafür sorgen, dass die Interessen der Eurozone kohärent und einheitlich nach außen vertreten werden. Er stellt außerdem eine bessere Vorbereitung und Begleitung der Euro-Anwärterstaaten in Aussicht.
Neu ist es ja nicht, dass die Euroländer dazu agehalten sind, den Stabilitätspakt einzuhalten. Punkt eins des Juncker-Programms bedient die deutschen Interessen. Ihnen gelten die im Stabilitätspakt eingemeißelten Konvergenzkriterien seit den Ursprüngen der Währungsunion als die Zehn Gebote. Das Sagen in geldpolitischen Entscheidungen soll allein die Zentralbank haben, damit niemand auf die Idee kommt, an den Zinsschräubchen zu drehen, um die Wirtschaft anzukurbeln oder deshalb gar die Währung zu entwerten. Doch längst nicht alle Euroländer sind so brav und gläubig wie die Deutschen. Und dass es ihrem Chef oft genug schwerfallen dürfte, Ordnung in der Truppe zu halten, und ihm das einigen Frust bereiten dürfte, liest sich aus seinem Schreiben an die Ministerkollegen heraus. Von ihnen will er ein eindeutiges Engagement, fordert – wiederholt – verbindliche Zusagen, dass alle im gemeinsamen Interesse zusammenarbeiten werden, sprich eine Art Treueschwur. Dass Euromitglied Griechenland derzeit vor dem finanziellen Ruin steht, weil die Hellenen nicht zum ersten Mal zeigen, dass sie kreative Buchhalter sind, stärkt die deutschen Argumente gerade jetzt. Wer den Stabilitätspakt mit Füßen tritt, den bestrafen die Finanzmärkte, so die Lektion.
Endlich aber musste sich Juncker auch aus der Ecke bewegen, in die ihn die Franzosen gedrängt hatten. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy hatte Juncker in den dunklen Stunden der Finanzkrise Passivität vorgeworfen. Juncker habe nichts unternommen, sich nicht ausreichend für eine gemeinsame Reak-tion der Euroländer auf die Krise eingesetzt, hieß es damals aus dem Élysée-Palast. Dort veranstaltete Sarkozy dann seinen eigenen Sondergipfel, um ein gemeinsames Vorgehen zu beschließen und die französische Forderung nach einer Wirtschaftsregierung für den Euroraum in den Vordergrund zu stellen. Der eigentliche Vorsitzende der Eurogruppe rückte in den Hintergrund. Auch deswegen jetzt der Vorschlag, nicht nur gemäß dem Stabilitätspakt die Haushaltspolitik der Euroländer zu überwachen, sondern wirtschaftspolitische Entscheidungen insgesamt. Den Ausdruck „Wirtschaftsregierung“ vermeidet Juncker dennoch aus Rücksicht auf die deutschen Befindlichkeiten bewusst, spricht lieber von der Eurogruppe als „Wirtschaftsforum“.
Der alte und neue Präsident der Eurogruppe stützt sich dabei auf den kürzlich in Kraft getretenen Lissabon-Vertrag, der die Ausarbeitung allgemeiner wirtschaftlicher Leitlinien im Rahmen der Nachfolgestrategie zur Lissabon-Strategie vorsieht. Besonders die Euroländer sind via Vertrag dazu angehalten, ihre Politik entsprechend dieser Leitlinien auszurichten. Tun sie das nicht, kann die EU-Kommission Verwarnungen aussprechen. Die dritte Forderung Junckers nach einer einheitlichen äußeren Vertretung der Eurozone-Interessen in internationalen Gremien basiert ebenfalls auf dem Lissabon-Vertrag. Artikel 138 besagt, dass der Ministerrat auf Vorschlag der EU-Kommission hin gemeinsame Positionen für die Vertretung der Wirtschafts- und Währungsunion in internationalen Gremien und Konferenzen festlegen kann. Diese Klausel will Juncker nutzen, um durchzusetzen, dass die Eurogruppe durch einen eigenen Vertreter und nicht durch die einzelnen Mitgliedstaaten am Tisch der G-20 repräsentiert wird, die sich im Zuge der weltweiten Wirtschaftskrise als eine Art Weltregierung etabliert hat.
Dass sich Juncker explizit auf dem Lissabon-Vertrag beruft, zeigt vor allem, wie eingeschränkt sein Handlungsspielraum früher, als Vorsitzender eines losen, inoffiziellen Vereins, war. Und dass die Einheitswährung bislang, abgesehen von der auf Preisstabilität ausgerichteten Zinspolitik der Europäischen Zentralbank, politisch ziemlich führungslos war: Erst durch den Vertrag wurde die Eurogruppe als zweite Instanz überhaupt geboren. Zwar ist sie auch jetzt noch ein informelles Gremium. Was sie entscheidet, muss formal vom Rat der Finanz- und Wirtschaftsminister beschlossen werden. Doch zumindest findet sie in den Texten Erwähnung, ist geregelt, wie ihr Vorsitzender gewählt wird.
Folglich ist auch fraglich, inwiefern die Vorwürfe Sarkozys, Juncker habe wenig geleistet, Bestand haben können. Denn bisher hatte Juncker keine Instrumente zur Hand, die es ihm erlaubt hätten, gegenüber den Kollegen der Eurogruppe eine gemeinsame Gangart durchzusetzen – oder sie überhaupt zu einem Sondergipfel einzubestellen. Hinzu kommt, dass andere Pläne Junckers wie von selbst durch die widersprüchlichen Interessen der Eurostaaten neutralisiert wurden. Junckers Vorschlag, eine gemeinsame europäische Anleihe auszugeben, um Rettungsaktionen und Konjunkturprogramme zu finanzieren, wurde von den eigennützigen Deutschen abgeblockt.1
Die neuen Kompetenzen, die der Vertrag der Eurogruppe und ihrem Vorsitzenden zuspricht, erhöhen den Druck auf Juncker, – jetzt, da er Mittel hat, aktiver zu werden, erst recht. Ob sie ihm eine ausreichende Basis bieten, um künftig tatsächlich energischer aufzutreten, bleibt allerdings abzuwarten. Die besagten wirtschaftlichen Leitlinien gibt es noch nicht. Man kann auf ihre endgültige Form ebenso gespannt sein, wie auch darauf, wie weit sich ein Land von diesen nicht-mathematischen Kriterien entfernen muss, um von der Kommission verwarnt zu werden. Obendrein übernimmt Junckers langjähriger energischer Mitstreiter, der spanische Währungskommissar Joaquín Almunia, bald ein anderes Portfolio. Einem schwächeren Kommissar könnten unbekümmerte Euroländer einfacher auf der Nase herumtanzen. Das zeigt sich auch am bisherigen Vorgehen der Griechen. Die reichten zwar ihre Stabilitätsprogramme zur Kontrolle ein. Und Eurostat bezweifelte regelmäßig die Qualität der gelieferten Daten. Doch weder Juncker noch Almunia konnten der Regierung in Athen die Buchprüfer auf den Hals hetzen – ein Audit der nationalen Statistikämter zwecks Durchsetzung der Stabilitätskriterien war bislang nicht möglich – das wird sich nun ändern.
Zwar verlangt Juncker ein klares Mandat, um die Interessen der Gruppe auf internationaler Ebene zu vertreten. Doch schon jetzt mäßigt er die Erwartungen, warnt, dass es es ein langer, schwieriger Prozess wird, bis er bei G-20-Gipfeln mit am Tisch sitzt. Schon jetzt, finden andere Länder, seien die Europäer dort überrepräsentiert. Doch wer von den dort vertretenen Euromitgliedern zugunsten der ganzen Zone auf seinen Platz verzichten soll, ist nicht absehbar. Dabei wäre dies vor allem auch für die exportgetriebene deutsche Wirtschaft wichtig. Werden Wechselkursfragen künftig eher im Rahmen der G-20, anstatt wie bislang auf Ebene der G-7, diskutiert, sollte die Eurogruppe dort unbedingt für geordnete Wechselkurse eintreten können, welche die tatsächliche wirtschaftliche Lage in den jeweiligen Währungsräumen widerspiegeln. Erstens, damit sich andere Währungsräume nicht auf Kosten eines teuren Euro wirtschaftlich weiterentwickeln, und, zweitens, weil dies, wenn Geldentwertungen ausgeschlossen sind, die einzige Chance ist, Ungleichgewichte in den Wechselkursen zu beheben.
Dabei war bislang die Kommunikation die Stärke des Eurogruppenvorsitzenden Juncker. Die Märkte hören ihm zu, nehmen ernst, was er sagt – auch wenn sie, wie man am Beispiel des vor den Eurozinssenkungen boomenden Yen-carry-trade2 sehen kann, nicht immer entsprechend handeln. Das hat er bislang geschickt genutzt, um den Wechselkurs des Euro gegenüber anderer Weltwährungen so gut wie möglich im Zaum zu halten.
Beobachter nennen das Juncker-Programm ambitiös. Sollte die Eurogruppe, wie Juncker fordert, tatsächlich dazu übergehen, Wirtschaftsprogramme und Wettbewerbsfähigkeit genauso streng und formalisiert zu prüfen, wie deren Haushaltslage, und sich die Euromitgliedstaaten mit dem Gedanken anfreunden können, dass Kommission und Eurogruppe sich mit konkreten Vorgaben tiefer in die nationale Wirtschaftspolitik einmischen, wird mehr, nicht weniger Arbeit auf Juncker zukommen. Zwar hat er endlich auch eine Art Sekretariat für die Eurogruppe durchgesetzt, das ihm künftig bei der Vorbereitung der Sitzungen hilft. Dennoch ist fraglich, ob der Luxemburger Staatsminister sozusagen im Nebenjob die Eurogruppe leiten kann. Oder umgekehrt, der Vorsitzende der Eurogruppe – rostbeständig, wie er auch sein mag – als Nebenjob ein Land regieren kann.