Karneval

Die fünfte Jahreszeit

d'Lëtzebuerger Land vom 21.02.2014

Schreck, lass nach Im britischen TV warnen Nachrichtenansager seit geraumer Zeit systematisch vor Beiträgen, die Bilder von Gewalt zeigen – so haben Eltern Zeit, die Kinder vom Bildschirm zu verscheuchen – oder Fotografenblitzlichtgewitter enthalten – damit Epileptiker sich rechtzeitig abwenden können. Glückliche Briten! Ihre Sendeanstalten sind denen auf dem größten kontinentaleuropäischen Fernsehmarkt, dem deutschen, einen entscheidenden Schritt voraus. Weil es dort an ähnlichen Warnhinweisen fehlt, riskieren unbescholtene Bürger auf der Suche nach leichter Feierabendunterhaltung beim ziellosen Zappen durchs Fernsehprogramm ernsthafte psychologische Traumata sowie Langzeitschäden an Augen und Ohren davonzutragen. Nämlich dann, wenn sie unvorbereitet auf die Übertragung von Karnevalsveranstaltungen stoßen, vom grellen Glanz der Synthetikkostüme geblendet werden und sich schlechtreimende Verse beziehungsweise Blaskapellen-Umptata ins Trommelfell bohren. In solchen Momenten kann es passieren, dass das Verlangen nach Selbstverstümmelung, die Sehnsucht, sich spitze Gegenstände in Augen und Ohren zu rammen, schlagartig zunimmt. Wer dieses Risiko umgehen will, sollte bis Aschermittwoch, den 5. März 2014, das TV-Gerät ausgeschaltet lassen; wer ganz sicher gehen will, möglicherweise noch ein bis zwei Wochen länger aufs Fernsehen verzichten.

Zwou Bulle Mokka Ein sicheres Indiz dafür, dass die Karnevalszeit naht, ist die Radio-Ausstrahlung von melodielosen Songs, bei denen maximal vier- bis sechszeilige Texte mit dem immer identisch klingenden Eurotrash-Beat unterlegt werden, wie er seit dem Fall der Berliner Mauer in dieser Reinform auch verstärkt bei der Eurovision zelebriert wird. In Kombination mit Alkohol stellen sich bei dieser Art Karneval-Hits ähnlich existenzielle Fragen wie die nach der Henne und dem Ei. Grölen die Jecken mit, weil sie betrunken sind, oder betrinken sie sich, um die Musik auszuhalten? Im Vergleich zu den meisten Karnevalshymnen sind Luxemburger Klassiker wie Zwou Bulle Mokka oder eng Moss am Bic wahre Poesie. Dass Entertainer Fausti mehr Stil hat als die Konkurrenz, zeigt auch das geradezu puristische Design seines neuen, rechtzeitig zum Start der fünften Jahreszeit releasten Albums Raschte kanns de dono (bei I-Tunes für 11,99 Dollar erhältlich). Das Cover zeigt ein schwarz-weißes Foto vom alten Haudegen Fausti mit lässig aufgebundener Fliege, der Album-Titel prangt in roter Sans-Serif-Schrift darauf. So dezent ist das Design, dass Hardcore-Karnevalfans es im CD-Regal gar nicht finden.

Polyester-Parfüm Bevor die Globalisierung der westeuropäischen Konsumgemeinschaft von den Figuren amerikanischer Blockbuster inspirierte und von südostasiatischen Kinderhänden hergestellte Fertigkostüme bescherte, war die Zusammenstellung eines Karnevalsoutfits ein langwieriger, kreativer Prozess. Aus einem Karnevalskostüm ließen sich die charakterlichen Eigenschaften des Trägers ablesen wie aus einem Buch: Fantasie, Humor, handwerkliche Begabung – oder eben die Abwesenheit all dieser Eigenschaften. Durch die Konzentration von Polyesterkostümen aus fernöstlichen Sweat-Shops auf den Karnevalspartys steigt außerdem die Konzentration an olfaktorischen Reizstoffen, ein Problem, das seit dem Rauchverbot noch akuter geworden ist.

Gender-Fragen Wer den Kinderwunsch des Partners oder der Partnerin auf die Probe stellen will, hat dieser Tage ausreichend Gelegenheit dazu. Kinderkarnevalsveranstaltungen sind das ideale Umfeld für derartige Experimente. Nervtötende Musik, Polyesterkostümgeruch, umgestoßene Saftbecher, Cola-Konfetti-Papiermaschee, die im Winter obligatorischen Rotznasen, das Ganze unterlegt mit dem Heulen der Kleinkinder, die Angst vor den Gruselkostümen der größeren Kinder haben – wer danach noch Kinder haben will, meint es wirklich ernst. Wer schon Kinder hat, steht vor ganz anderen Herausforderungen erziehungstechnischer Natur: Können/dürfen/sollen sich kleine Mädchen als Indianerhäuptling verkleiden und kleine Jungs als Ballerina? Identitätsfragen dieser Art bleiben oft auch im Erwachsenenalter ungelöst. Wie sonst erklärt sich, dass sonst sehr auf ihren besonders maskulinen Auftritt bedachte Männer zur Karnevalszeit freudig jauchzend in Minirock, Netzstrumpfhosen und Stöckelschuhen umherhüpfen und ständig ihr falsches Dekolleté neu arrangieren?

Nucleus accumbens Kalendarisch folgt auf den Karneval die Fastenzeit. Dass im Frühling große Teile der Gesellschaft ein Diät- und Sportprogramm anfangen, hat heutzutage weniger mit der Erinnerung an Jesus’ 40-tägigen Aufenthalt in der Wüste zu tun als damit, dass sich unter der leichten Frühlings- und Sommerkleidung die im Winter angegessenen Speckpolster weniger gut verstecken lassen als unter dicken Pullis und Mänteln. Was allerdings nicht heißt, dass große Teile der Gesellschaft auf die der religiösen Tradition geschuldete Völlerei vor der Fastenzeit verzichten. Fuesent und Verwurelter sind eine der wenigen tatsächlich regionalen und nur saisonal angebotenen Spezialitäten im Land und eine Religion für sich. Ihre Anhänger teilen sich in viele Untersekten ein: Diejenigen, die Backpulvergebäck dem Hefegebäck vorziehen; diejenigen, die für das Bestäuben mit Puderzucker plädieren, was wiederum für die Anhänger von Kristallzucker nicht in Frage kommt; diejenigen, die finden, dass Fuesent am besten heiß gegessen werden, und diejenigen, die mit dem Verzehr lieber einen Tag warten. Einigkeit gibt es nur darüber, dass das Gebäck die perfekte Mischung aus Zucker und Fett ist, um das Belohnungszentrum im Gehirn auf Hochtouren arbeiten zu lassen. Das kommt auch bei Karnevalsumzügen in Fahrt, wo beim Erbeuten von Bonbons, Chipstüten und Gratisgetränken öfters Gefechte ausbrechen. Ein klassisches Straßenzuggefecht verläuft wie folgt: Person A bückt sich, um die Beute aufzuheben, Person B tritt Person A flugs auf die Hand, um das Zielobjekt dann selbst einzuheimsen. Wer Gewalt prinzipiell ablehnt, sollte Karnevalsumzügen deshalb fernbleiben ...

Michèle Sinner
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