Die politischen Grenzen des Großherzogtums, so wie sie 1815 und 1839 definiert wurden, durchschnitten ein existierendes Dialektkontinuum und bewirkten, dass die damals sich kaum unterscheidenden deutschen Mundarten in den vier betroffenen Staaten sich sowohl in linguistischer als auch in soziolin-guistischer Hinsicht verschieden weiter entwickelten. Sowohl die Entstehung der Luxemburger Sprache als auch die für Luxemburg charakteristische Dreisprachigkeit sind nur vor dem Hintergrund des Nationenbildungprozesses des 19. Jahrhunderts zu verstehen. Oder, mit den Worten von Gilbert Trausch: „Seule l’histoire peut expliquer la genèse de la situation linguistique actuelle du Grand-Duché.“
Obwohl die Soziolinguistik überzeugend dargelegt hat, dass die Luxemburger Sprache erst im 20. Jahrhundert entstanden ist, sind heute noch viele Luxemburger fest davon überzeugt, es habe das Luxemburgische „schon immer“ gegeben. Während die Zahl jener, die den Sprachenstatus des Luxemburgischen negieren, in letzter Zeit rapide abgenommen hat, erhält neuerdings die Ansicht Auftrieb, die Unterscheidung zwischen Dialekt und Sprache sei irrelevant. So die Autoren von Inventing Luxembourg, wenn sie schreiben: „(we) refuse to make a point about whether Luxembourgish should be considered a language, a dialect or an idiom“1.
Auf diese Unterscheidung zu verzichten hieße jedoch, blind zu sein für das eigentliche Wesensmerkmal der Luxemburger Sprachengeschichte. Denn, so wie die deutsche Sprachengeschichte „als Suche nach einer deutschen Hochsprache“ zu verstehen ist (P. Ernst), ist die Luxemburger Sprachengeschichte hauptsächlich durch die „Emanzipation des Lëtzebuergeschen aus dem Gefüge der deutschen Mundarten“ (P. Gilles) gekennzeichnet.
„Gesellschaften als nationalstaatlich verfasste Gesellschaften zu begreifen ist dabei keine Erfindung von konstruktivistisch verblendeten Sozialwissenschaftlern und insofern auch nicht das Ergebnis eines methodologischen Nationalismus, sondern hat einen realen Gehalt. Die Weltgesellschaft ist realiter u.a. in Nationalstaaten aufgegliedert“2 und dies auch heute noch. Dass die Luxemburger Nation, wie andere auch, eine „imaginierte Gemeinschaft“ ist, verhindert nicht, dass sie existiert. Die Eliten des Großherzogtums, das vom Wiener Kongress als Staat ohne Nation und ohne Sprache geschaffen worden war, kamen im Kontext der Nationalstaatenbildung in Europa nicht daran vorbei, sich die Attribute eines Nationalstaates zuzulegen, zu denen eben auch eine Nationalsprache gehörte. Dieser Prozess, den man heute als „na-tionbuilding“ bezeichnet, hat Nicolas Margue in den 1930er Jahren bereits als „Volkwerden der Luxemburger“ analysiert und Albert Calmes mit großer Detailfülle beschrieben. Gilbert Trausch bleibt es jedoch vorbehalten, einem Paradigmenwechsel in der Luxemburger Geschichtsschreibung zum Durchbruch verholfen zu haben, indem er die allmähliche Konstruktion des Nationalbewusstseins ins Zentrum seiner Überlegungen stellte und dies in die griffige Formel „De l’État à la na-tion“ fasste.
In den folgenden Zeilen sollen einige Ergebnisse aus meinem Beitrag in der soeben erschienen Festschrift für Gilbert Trausch vorgestellt werden3. Anknüpfend an das von ihm geprägte Motto „De l’État à la nation … et à la langue“ liefert er eine Neuinterpretation verschiedener Veröffentlichungen aus der Zeit von 1815-1830. Untersucht werden zum Beipsiel der erste in der Zeitung Luxemburger Wochenblatt gedruckte Text im Luxemburger Stadtdialekt und die erste Erwähnung des Luxemburgischen als „langue nationale“ im Journal de la Ville et du Grand-Duché de Luxembourg.
Das Großherzogtum Luxemburg wurde vom Wiener Kongress 1815 bei der Aufteilung des napoleonischen Reiches als einer von 39 Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes geschaffen und dem niederländischen König Wilhelm I. „en toute propriété et souveraineté“ übergeben. Die sich anschließende Periode bis 1830 war durch die Ambition Wilhelms I. gekennzeichnet, die alten Spanischen Niederlande des 15. Jahrhunderts, zu denen das Herzogtum Luxemburg als eine der 17 Provinzen gehört hatte, wieder aufleben zu lassen. „Wilhelm I. wollte weder ein Holländer noch ein Belgier, sondern ein Gross-Niederländer sein“4.
Weil das Großherzogtum unter derselben Souveränität wie das Königreich stand, wurde es während der Periode 1815-1830 de facto als Teil des groß-niederländischen Reiches verwaltet. Aus der 17. Provinz der alten Spanischen Niederlande war so die 18. Provinz der neuen Niederlande Wilhelms I. geworden und das durch die Episode der französischen Republik erheblich geschwächte luxemburgische Sonderbewusstsein des Ancien Régime war, so Nicolas Margue, auf seinem Tiefpunkt angekommen: „Fünfzehn Jahre lang wurden so die Luxemburger als belgische Niederländer angesehen und behandelt und es war kein Wunder, daß sie sich schließlich selber als solche vorkamen, daß die Luxemburger Abgeordneten von ‚unseren’ Kolonien redeten und die Sundainseln meinten, für ‚unsern’ Handel eintraten, wenn vom Verkauf des Javakaffees Rede ging usw.”.
Die Tatsache, dass die Bewohner des Großherzogtums sich begeistert der belgischen Revolution von 1830 anschlossen, darf als Beweis für Nicolas Margues These gelten, dass ein „neues Volksbewusstsein“ – heute würde man sagen, eine nationale Identität –, sich in den ersten fünfzehn Jahren von Wilhelms I. Herrschaft nicht entwickelt hatte. Deshalb ist jede nationale beziehungsweise sprachpatriotische Interpretation jener Zeit ein Anachronismus, und es gibt sicher auch keine patriotischen Gründe für die Publikation erster kleiner Mundarttexte im Luxemburger Wochenblatt, der ersten Zeitung im neugegründeten Großherzogtum, die von 1821 bis 1826 erschien und nach Romain Hilgert „ein biedermeierliches Verbindungsblatt für das Bürgertum und die preußischen Offiziere in der engen Festungsstadt“ bildete.
Dass der Herausgeber ganz einfach die Gunst des lokalen Publikums umwerben wollte, lässt sich aus der Gattung des am 14. April 1821 veröffentlichten allerersten „luxemburgischen“ Textes folgern. Bei diesem handelt es sich um eine Eigenwerbung der Zeitung, einen Gebrauchstext ohne jeglichen künstlerischen Anspruch, der die Retranskription eines (fiktiven) Gesprächs darstellt, also auf halbem Wege zwischen gesprochenem und geschriebenem Wort steht. Für einen soziolinguistischen Ansatz stellt diese kleine Komposition ein wertvolles Dokument dar, in dem Code-Switching und Lehnwörter ihren selbstverständlichen Stellenwert haben.
Sprachpuristen, die von einem essenzialistischen, ahistorischen Sprachideal ausgehen, sehen in der im Alltag gesprochenen Sprache, von der das genannte Dokument ein erstes Zeugnis ablegt, nur eine Perversion der „wahren“ Luxemburger Sprache. Und dies heute wie gestern, wie zum Beispiel 1855 Peter Klein, der glaubte „das ächt luxemburgische gepräge der mundart“ nur noch in den „entlegneren Gegenden des Landes“ zu finden, während er die Sprache der Städter mit ihrer „albernen Vornehmthuerei“ als „ungeheuerliches Gemisch fremder Elemente“ stigmatisierte5.
„Im Vereinigten Königreich der Niederlanden war das Niederländische Nationalsprache (‚landstaal’) oder offizielle Sprache.“6 Und das Hauptziel der Sprachenpolitik von Wilhelm I. war es, die Französisierung (verfransing) der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit in Flandern rückgängig zu machen. Es wurde eine Sprachgrenze definiert und in Flandern und Brüssel sollten, nach einer Übergangszeit, ab 1823 alle öffentlichen Angelegenheiten nur noch in Niederländisch erledigt werden. „Der amtliche Sprachgebrauch in Wallonien blieb von den Sprachbeschlüssen unberührt. Doch hatte Wilhelm I. den Anspruch, die Nationalsprache allmählich in Wallonien einzuführen, was an seiner Bildungspolitik klar zu erkennen ist.“7 Auch wenn sie formal nur in den nördlichen Provinzen und in Flandern vorgeschrieben war, wurde die Beherrschung der Nationalsprache zur Zugangsvoraussetzung zu hohen Ämtern in den ganzen Niederlanden und das Niederländische wurde so zur eigentlichen Aufstiegssprache.
Das Quartier Allemand des Großherzogtums nahm eine Sonderstellung ein. Hier hatten die Gebildeten es leichter, die Nationalsprache zu lernen; das Athenäum, dessen Erwachsenenkurse einen regen Zulauf kannten, wurde eine „pépinière de polyglottes“ (A. Calmes). Angesichts des allgemein desolaten Zustandes des Bildungswesens im armen Großherzogtum löste der völlig unrealistische Versuch, Niederländisch in der Primärschule als Fremdsprache einzuführen, Unmut aus. Anders jedoch als in den anderen belgischen Provinzen waren es im Großherzogtum weder sprach- noch religionspolitische, sondern wirtschaftliche Gründe (besonders die als zu hoch empfundene Steuerlast), die zur Revolution von 1830 führten.
Die Sonderstellung, die der deutschsprachige Teil des Großherzogtums einnahm, kommt in einem politischen Essay klar zum Ausdruck, den Charles Tandel veröffentlichte während er von 1826 bis1828 als „régent“ und Lehrer für Griechisch, Niederländisch und Geschichte am Collège in Echternach wirkte. In diesem, vom Geist der Aufklärung getragenen politischen Traktat kann man lesen: „Il serait entr’autres avantageux et facile, de remplacer dans le quartier allemand du Grand-Duché, la langue française par la langue nationale, nous disons avantageux ; parce que la langue française diffère trop de notre caractère national, et que sous ce rapport elle ne peut être que nuisible, d’après les principes ci-dessus énoncés : facile (sous le rapport de la langue), parce que la langue nationale se rapproche beaucoup plus de notre allemand que la langue française, qui ne lui ressemble pas du tout. Or, nous avons appris le français, donc nous apprendrons beaucoup plus facilement le hollandais.”
Was retrospektiv als Opportunismus erscheint, entspricht den objektiven Interessen einer jungen Generation, deren Aufstiegsmöglichkeiten in dem engen Luxemburg sehr eingeschränkt waren, und die mit der Option für das Neue – selbst die Vorstellungen einer Nationalsprache war damals noch jung – sich implizit gegen die etablierten Kräfte und deren Frankofonie wandten.
Im August 1829 macht der König im Sprachenstreit mit den Südprovinzen weitgehende Zugeständnisse in einem Dekret, das im Journal am 2. September 1829 abgedruckt wird, begleitet von einigen sprachpolitischen Überlegungen, vermutlich vom Herausgeber Mathieu-Lambert Schrobildgen, deren Ton konziliant ist, wie es sich für eine regierungstreue Zeitung gehört. Die Ablehnung des Holländischen als Nationalsprache wird nicht politisch, sondern pragmatisch mit dem Argument begründet, die Sprache der „nördlichen Brüder“ sei kaum bekannt. Auch wird ein falsches Verständnis des Nationalsprachenbegriffs als Ursache der „Diskussionen“ – ein Euphemismus für den Sprachenstreit – bezeichnet und eine Definition vorgeschlagen, die die Einheit des Reiches und die Homogenisierungspolitik nicht in Frage stellt. Ein Volk kann aus mehreren Teilvölkern (fractions du peuple) bestehen, die je verschiedene Sprachen haben. Der dort geforderte sprachliche Partikularismus darf jedoch nicht als Luxemburger Nationalismus missverstanden werden, denn der Schreiber versteht sich weiterhin als „Belgier“, wie es etwa in folgendem Satz deutlich wird: „Il est bien juste qu’une ville [Luxembourg] dont les habitants sont belges de cœur, reçoive garnison belge.“ In diesem Text findet sich vermutlich auch zum ersten Mal in gedruckter Form der Begriff „Letzebourger Deutsch“.
Das königliche Dekret vom 6. Juni 1830, das den Südprovinzen weitere Zugeständnisse machte, konnte die Revolution nicht aufhalten. Im Großherzogtum wird es bis 1984 offiziell Geltung haben, wenn es durch Artikel 5 des Sprachengesetzes explizit außer Kraft gesetzt werden wird. Von da an wird es heißen: „La langue nationale des Luxembourgeois est le luxembourgeois.“