„Die schöpferische Zerstörung vorgefasster Meinungen“ hat sich Idea zum Ziel gesetzt. Deshalb stellten am Dienstag die jungen, dynamischen Funktionäre der Handelskammer, die mit Sombart und Schumpeter Tabus brechen und heilige Kühe schlachten wollen, zum dritten Mal ihren Jahresbericht vor. Das vielleicht nicht zufällig wie die 2010 eingestellten Jahresgutachten des Wirtschafts- und Sozialrats benannte Avis annuel sur la situation économique, sociale et financière du Grand-Duché de Luxembourg verspricht eine peppigere Analyse der Konjunktur als die drögen Haushaltsgutachten der Handelskammer.
Vor drei Jahren hatten die Idea-Leute unter dem Namen Luxembourg 2030 für einen wirtschafts- und sozialpolitischen und wohl auch parteipolitischen Wechsel geworben. Gleich nach den Wahlen und erfülltem Auftrag hatte die Handelskammer Luxembourg 2030 aufgelöst (d’Land, 29.11.2013) und durch die sich Stiftung nennende Vereinigung ohne Gewinnzweck Idea ersetzt. Sie soll die alten Forderungen nach einer angebotsorientierten staatlichen Wirtschaftspolitik und dem Ende der sozialstaatlichen Umverteilung nicht nur werbewirksamer unter die Leute bringen, sondern sie drückt im Gewand wissenschaftlichen Sachverstands auch eine Radikalisierung der Unternehmerforderungen nach dem Ende der Tripartite aus.
Im Gegensatz zu den meisten Unternehmerorganisationen, die ihre Enttäuschung über die Regierung Xavier Bettels (DP) kaum verhehlen, bescheinigt Idea ihr, zahlreiche Reformen in der Beschäftigungspolitik, bei den Sozialleistungen und der Wirtschaftsförderung durchzuführen oder angekündigt zu haben (S. 41). Anders als fast alle Berufsverbände und Oppositionsparteien verteidigt sie sogar die Ansicht der Regierung, dass eine wahrhaft große Steuerreform nur schwer vorstellbar und nicht einmal wünschenswert wäre (S. 50).
Allerdings gibt es, ohne Zinsen, ohne Inflation und mit Billigrohstoffen, im Grunde nicht viel Anlass zum Klagen. Auch wenn das Gutachten unter dem Motto steht, dass einige Zweifel fortbestünden, verzichtet Idea sogar über weite Strecken auf die Schwarzmalerei, mit der üblicherweise subalternes Anspruchsdenken abgeblockt werden soll. Alles sei „gut und sogar besser“, meldet Idea in dem neusten Bericht: Die Volkswirtschaft habe erneut ihre Vitalität unter Beweis gestellt und vergangenes Jahr mit 4,6 Prozent die zweithöchste Wachstumsrate seit 2007 aufgewiesen. Das Luxemburger Wirtschaftswachstum sei damit dreimal so hoch wie in der gesamten Eurozone (S. 36). Die Trennung von Kirche Staat hin oder her, auf die im Vorjahr gestellte bange Frage, ob Gott noch Luxemburger sei, gibt Idea nun resolut eine „positive Antwort“ (S. 41).
Dem Ruf des ökonomischen Sachverstands etwas abträglich ist, dass dieselben Experten, die nun über 4,6 Prozent Wachstum schrieben, vor zwei Jahren dozierten, die Periode des „starken Wachstums (um 4 Prozent)“ sei vorüber. Die Krise habe die wirtschaftliche Aktivität nicht nur konjunkturell, sondern strukturell beeinflusst, das Niveau und der Rhythmus des Wachstums seien zurückgegangen (S. 41), hieß es damals. Durch diese „Wachstumspanne“ seien die Wachstumsraten der Jahre 1980 bis 2007 außer Reichweite und die künftigen „Wachstumsaussichten (um zwei Prozent)“ reichten nicht aus, um den Sozialstaat zu finanzieren, der ein Wachstum von mehr als drei Prozent verlange, stellte der Bericht 2014 fest (S. 50).
Ein zweiter Faktor, der zum aktuellen Erfolg der Volkswirtschaft beigetragen habe, heißt es heute, sei die Art und Weise, wie der dreifache Schock aufgefangen worden sei, der durch den Steuerausfall beim elektronischen Handel, durch die Mehrwertsteuererhöhung und den automatischen Informationsaustausch über die Zinseinkünfte entstanden sei (S. 36). Dabei hatte Idea in ihrem Jahresbericht 2014 vorausgesagt, dass die Mehrwertsteuerreform im elektronischen Handel 2015 einen Steuerausfall von 700 Millionen bis eine Milliarde Euro verursachen und die Erhöhung der Mehrwertsteuer einen „Inflationsschock von 0,7 Prozent“ sowie eine Indexanpassung auslösen werde, während der automatische Informationsaustausch die Aktivitäten des Finanzplatzes „empfindlich treffen“ werde (S. 53).
Nun aber heißt es, dass Wirtschaftswachstum, Staatsfinanzen und Arbeitslosenrate gezeigt hätten, dass das Jahr 2015 „wieder ein sehr guter Jahrgang“ gewesen sei (S. 40). Dabei hatte Idea in ihrem Jahresbericht 2015 noch vom „Jahr null des neuen Luxemburg“ geschrieben (S. 43), als ob es Trümmer-Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wäre, und wie der heilige Thomas gezweifelt: „Ist Gott noch Luxemburger?“ (S. 36).
Selbstverständlich gibt es immer Unwägbarkeiten, die das idyllische Konjunkturbild trüben könnten. Idea fallen dazu ein: vom Terrorismus und einem möglichen Grexit über die Arbeitsplatzverluste durch die Digitalisierung und die dritte Industrielle Revolution bis zur internationalen Steuerharmonisierung und den wachsenden gesellschaftlichen Unterschieden durch einen Abbau des Sozialstaats, Globalisierung und Asylsuchende (S. 42-47).
Schwerpunkt des diesjährigen Berichts ist die angekündigte Steuerreform, die es fertigbringe, die Kaufkraft fast aller Privathaushalte zu erhöhen (S. 49). Idea rückt die Förderung der Massenkaufkraft in die Nähe einer unseriösen „PR-Konzepts“ (S. 50), auch wenn sie an anderer Stelle darauf hinweist, dass die Binnennachfrage zu einem Drittel zum Wachstum beitrage (S. 36). Dagegen wird die angekündigte Senkung der Unternehmensbesteuerung für „ungenügend“ gehalten; die erhöhte Obergrenze für Profite, die unter den ermäßigten Körperschaftssteuersatz von künftig 15 Prozent fallen, sei im Vergleich zu den Niederlanden und Irland mit 25 000 Euro viel zu niedrig (S. 59).
Entsprechend schlägt Idea vor, den außerberuflichen Freibetrag für Eheleute abzuschaffen. Die Grundsteuereinnahmen sollen vervierfacht und die Gewährung des Bëllegen Akt beim Wohnungskauf vom Einkommen der Antragsteller und (im Widerspruch dazu) von der Energieeffizienz der Gebäude abhängig werden. Der Höchstbetrag, um Schuldzinsen von Hypothekardarlehen von der Steuer abzusetzen, soll nicht erhöht werden, und die steuerliche Abzugsfähigkeit der Beiträge zu Bausparverträgen soll abgeschafft werden.
Idea hält die Steuersenkungen zugunsten der Haushalte nicht nur für ein PR-Konzept, sondern auch für unvorsichtig. Denn sie warnt, dass unvorhergesehene Ausgaben oder Steuerausfälle die Staatsfinanzen in Bedrängnis bringen könnten, weil die Regierung mit der Steuerreform leichtfertig auf eine halbe Milliarde Euro Einnahmen verzichtet und so ihren Spielraum verringert (S. 49). Gleichzeitig hält Idea die Unternehmensbesteuerung für „überholt“ und schlägt kurzerhand vor, dass Industrie und mittelständische Unternehmen gar keine Steuern mehr zahlen sollen – was ebenfalls einem Steuerausfall von fast einer halben Milliarde Euro gleichkäme (S. 63).
Damit erscheint der ausdrücklich provokant gewollte Vorschlag finanzpolitisch alles andere denn kohärent. Aber als PR-Konzept ist er mindestens so originell wie der rezente Wunsch des Unternehmerdachverbands UEL, keine Beiträge mehr für die Sachleistungen der Krankenkassen zahlen zu wollen. Auch ist er deutlich origineller als die von der Regierung versprochene Senkung des Körperschaftssteuersatzes von 21 auf 18 Prozent, der politisch delikat durchsetzbar ist, aber nun plötzlich bieder und zaghaft erscheint.
Jedenfalls hat Idea, zumindest für die Industrie und den Mittelstand, das himmlischste Steuerparadies auf Erden erfunden – schließlich sollen sie überhaupt keine Steuern mehr zahlen. Die Frage drängt sich auf, wieso niemand früher auf diese genial einfache Idee kam.
Weshalb die Banken, Versicherungen und anderen Finanzgesellschaften weiterhin Körperschafts-, Solidaritäts- und Vermögenssteuer zahlen sollen, dürfte diesen allerdings kaum einleuchten. Manche dürften deshalb ihre Interessen sogar etwas stiefmütterlich von der Handelskammer verteidigt fühlen, da Idea an anderer Stelle (S. 58) vorrechnet, dass der Steuerdruck in konkurrierenden Finanzzentren wie Irland und dem Vereinigten Königreich deutlich niedriger sei. Wohl nicht grundlos fragt sich Idea, ob die Steuerbefreiung ausgewählter Branchen keinen Verstoß gegen das steuerliche Gleichheitsprinzip darstellen würde, wie sie auch als aggressive Praxis im Sinn des 1997 beschlossenen europäischen Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung ausgelegt werden könnte. Aber vielleicht hat die Europäische Kommission so viel Humor wie Idea.