LSAP-Fraktionschef Lucien Lux hat nachgezählt: 136 Mal stehe im Haushaltsbericht von Rapporteur Lucien Thiel (CSV) zum Staatsbudget 2010 das Wort „Krise“. Trotzdem will, als die Abgeordnetenkammer das zweite Anti-Krisenbudget der alt-neuen Juncker-Asselborn-Regierung diskutiert, nicht der Eindruck entstehen, die Idylle im Wachstumswunderland habe nun wirklich ein Ende.
Das liegt weniger am ewig falschen Barock des Plenarsaals mit den bordeauxrot verhangenen Tischen, den Säulen aus Marmor-Imitat und den Kronleuchtern mit den elektrischen Lämpchen, die züngeln, als seien sie Kerzen. Es kann auch nicht daran liegen, dass die Krise noch nicht in allen Köpfen angekommen ist, wie Thiel in seiner Rede vor einer Woche festgestellt hat – das Parlament sei sich über die Krise im Klaren, findet CSV-Präsident Michel Wolter.
Es liegt vor allem daran, dass hier kaum mehr geprobt wird als ein kurzer Stellungskrieg der drei größten Parteien, ehe nächstes Jahr die Auseinandersetzung um die Sanierung des Staatshaushalts beginnen soll: Klar könnte man ein Moratorium für bestimmte öffentliche Investitio-nen erlassen, meint CSV-Fraktionsvorsitzender Jean-Louis Schiltz. „Aber für welche, das sage ich nicht heute, nicht morgen, und dieses Jahr überhaupt nicht mehr“, tönt der Ex-Verteidigungsminister aus dem gut befestigten Schützengraben der stärksten Kammerfraktion. „Das sage ich erst nächstes Jahr!“
Bei der größten Oppositionspartei ist man über so viel Nonchalance erwartungsgemäß entrüstet. „Was die Regierung für 2010 ankündigt, hätten wir schon 2009 vorgezogen“, behauptet DP-Präsident Claude Meisch. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht: Erst Mitte vergangener Woche schloss der DP-Nationalrat Überlegungen zur Haushaltspolitik ab. Die Resultate schienen wichtig zu sein, denn Meisch berief noch für den Tag vor Beginn der parlamentarischen Haushaltsdebatten eine Pressekonferenz ein. Die jedoch diente vor allem dazu, dem am 7. Juni nur auf dem 16. Platz der DP-Zentrumsliste gewählten Generalsekretär Georges Gudenburg wieder zu einem öffentlichen Auftritt zu verhelfen und ihn von der Regierung „Aussagen zu einem neuen Wachstumsmodell“ fordern zu lassen. Während Meisch erklärte, die DP habe dazu bereits in ihrem Wahlprogramm Vorschläge gemacht, und eigentlich sogar schon 2006, als ihr die Tripartite-Beschlüsse nicht weit genug gingen. Innovativ klang das ebenfalls nicht.
Aber die Liberalen haben, wie die Grünen, ein Problem: Sie können vorschlagen, was sie wollen, und hätten sie eine noch so gute Idee – elektoral würde sie der CSV nützen, für die Krisenausgang und Haushaltssanierung entscheidende Etappen auf dem séchere Wee ins Wahljahr 2014 sind. Zumal, da seit zwei Wochen feststeht, dass es Jean-Claude Juncker ist, der ihn bis 2014 vorgibt, und der Weg auch noch über die Gemeindewahlen 2011 führt.
Deshalb ergreift die DP eine gute Gelegenheit, wenn sie die Haushaltsdebatten, in der ohnehin viele kleine Nadelstiche ausgeteilt werden, noch ein wenig aufmischt. ADR-Gruppenchef Gast Gybérien versucht das zwar auch und präsentiert die Verschwörungstheorie von der CSV, die schon vor den Wahlen wusste, dass eine Milliarde Euro in der Staatskasse fehlen würde, die Wähler belogen habe und nun womöglich die Hand nach den neun Milliarden Euro Pensionsreserven ausstrecken wolle.
Dagegen ist es mehr als nur eine Kabaretteinlage, wenn DP-Fraktionschef Xavier Bettel am Mittwochmorgen einen Uhu-Klebestift ans Rednerpult mitbringt, um „die Scherben der Koalition zu kitten“: In schwelende Konflikte zwischen Schwarz und Rot ein paar Brandbeschleuniger zu werfen und zugleich CSV-interne Auseinandersetzungen zuzuspitzen versuchen, ist derzeit die Taktik der Liberalen vor dem großen Showdown im kommenden Jahr. „Einige Leute in der CSV sind ja bereit, mit in Richtungen zu gehen, die wir skizziert haben“, hat Parteichef Meisch schon am Montag der Presse erzählt.
Womit nicht nur gemeint ist, die energetische Sanierung von Altbauten statt zu subventionieren, durch Vorfinanzierungen über eine „Klimabank“ voranzutreiben, oder einen Teil des Kindergelds in ein Wohngeld zu verwandeln. Sondern auch, dass der Staat sich aus der Wirtschaft wieder zurückziehen soll und auf keinen Fall die Betriebssteuern erhöht werden, die die DP 2001 gemeinsam mit der CSV auch nominal auf ein bis dahin unerreichtes Maß gesenkt hatte. Und ginge es nach den Liberalen, würde die von Haushaltsberichterstatter Thiel vorgeschlagene Option ergriffen, das Privatkundengeschäft am Finanzplatz konsequenter auf die Vermögensverwaltung für High Net Worth Individuals auszurichten.
Für die LSAP sind das Reizthemen. Denn erst am Wochenende hat ihr zurzeit sehr populärer Arbeitsminister Nicolas Schmit auf dem OGB-L-Nationalkongress ähnlich unvermutet über eine Anhebung des Spitzensteuersatzes nachgedacht wie CSV-Finanzminister Luc Frieden beim LCGB-Nationalkongress vor drei Wochen über den Sozialstaat, der „sein Gesicht verändern“ werde, und am Freitag vergangene Woche über den Staat, der nicht der „Heilige Nikolaus“ sei.
Das Kräftemessen mit dem christlichsozialen Koalitionspartner reicht bis in die öffentliche Debatte im Kammerplenum: Man könne doch nicht einfach mit der Tradition reglementa-rischer Kontinuität brechen und die Vermögenssteuer wieder einführen wollen, doziert Jean-Louis Schiltz anzüglich, denn das Tageblatt hatte am Montag berichtet, der Arbeitsminister habe auch von der Anhebung der Vermögenssteuer gesprochen. Weil die LSAP die Vermögenssteuer 2006 gemeinsam mit der CSV abgeschafft hatte, wird Amtskollege Lux später zwar „das Hofieren von Millionären und Milliardären“ eine Politik nennen, „von der man einen Oeslinger Dickkopf wie mich schwer wird überzeugen können“. Am Schluss seiner Rede teilt er mit, Nicolas Schmit lasse dementieren, beim OGB-L für die Wiedereinführung der Vermögenssteuer plädiert, und erkläre, lediglich aus der Financial Times zitiert zu haben. Die DP ist begeistert, Schiltz auch.
Aber dass, wie Claude Meisch behauptet, die LSAP es ist, die innerhalb der Regierungskoalition eine „wachstumsorientierte Politik“ verhindert, wie die Liberalen sie befürworten, trifft nicht zu. Wie es sich für eine Volkspartei gehört, herrscht bei der CSV alles andere als Klarheit in der Frage, wie man das von Finanzminister Frieden erklärte Ziel, bis 2014 den Haushalt wieder ins Gleichgewicht zu bringen, erreichen will. Es würde bedeuten, bei einem Defizit von geplanten 4,4 Prozent des BIP im kommenden Jahr, auf die vier darauf folgenden Haushaltsjahre verteilt insgesamt rund 1,5 Milliarden Euro einzusparen; vielleicht reicht eine Milliarde, wenn die Konjunktur wieder anzieht. Das ist viel Geld und entspricht ungefähr dem Staatsbeitrag zur Nationalen Pensionskasse.
So dass die Ankündigung von Premier Juncker vor zwei Wochen, die Tripartite erst Ende Februar einberufen und vorher Klärungsprozesse bei den Beteiligten abwarten zu wollen, nicht nur mit den jüngsten Konflikten zwischen Patronat und Gewerkschaften zu tun hat und vielleicht damit, dass Juncker die anstehenden Sozialwahlen im öffentlichen Dienst noch abwarten will. Die Klärungsprozesse betreffen auch die eigenen Reihen.
Xavier Bettel hat schon Recht, es seltsam zu finden, dass Lucien Lux vom Finanzminister wissen will, welche Nikolausgeschenke der Staat denn verteile – „selektive Sozialpolitik“, sagt Bettel, stehe doch im Koalitionsabkommen. Es ist jedoch ausgerechnet das Ressort der christlich-sozialen Familienministerin, in welchem laut Regierungsprogramm mehr Selektivität herrschen soll. Weiter erklärt wird es nicht, doch weder Luc Frieden noch Jean-Louis Schiltz präzisieren, ob eher fürs Kindergeld oder eher für die Mammerent die Art der Zuerkennung sich ändern soll. Vielleicht wohnt der Premier ja auch deshalb nicht den Budgetdebatten bei, weil er nicht erleben will, wie sozialpolitische Erfindungen, die auf ihn zurückgehen, in einen vorgezogenen Schaukampf über Wachstum und Krisen-Exit-Strategien geraten.
Freilich: Als am zweiten Tag der Haushaltsdebatten CSV-Präsident Michel Wolter erklärt, über den Sozialstaat werde ganz einfach deshalb diskutiert, „weil er 45 Prozent des Haushalts ausmacht“, hört sich das an, als hätten CSV und LSAP schon während ihren Koalitionsgesprächen nicht gewusst, was sie wollten, und als sei damals schon ein eher bürgerlich-liberaler Flügel um Jean-Louis Schiltz oder Michel Wolter bereit gewesen, weiter zu gehen als LCGB-Mitglieder wie Jean-Claude Juncker oder François Biltgen und hätte auch die Sozialversicherung stärkerer Selektivität unterworfen. Lucien Lux geht so weit, an die Adresse der CSV zu sagen, „der ewige Verweis auf den hohen Anteil der Sozialversicherung kommt einem manchmal verdächtig vor“.
Das große Problem der Sozialisten ist, dass sie für gleich welchen Krisenausweg und Wachstumspfad bei den nächsten Wahlen bestraft werden dürften. Schon zeigen die neuesten Sonntagsfragen im Tageblatt, dass die LSAP im Ostbezirk den Rang der zweitstärksten Kraft an die DP verlieren könnte, während die CSV noch stärker wird. Hinzu kommt: Dass gegen Ende der Legislaturperiode die Staatseinnahmen ganz ohne Krisenfolgen zurückgehen dürften, weil die Akzisen und Mehrwertsteuer dann weniger abwerfen, ist kein hervorragendes Thema beim Schlagabtausch der Fraktionschefs. Nur der Grüne François Bausch insistiert darauf, und für ein paar Minuten wird die Debatte auch inhaltlich turbulent und kreist um die Zukunft der Renten.