Auf 180 bis 190 Milliarden Euro werden die jährlichen Kosten der Armeen geschätzt, die EU-Mitgliedstaaten unterhalten. Die Verteidigungspolitik ist von einem gemeinschaftlichen Ansatz noch weit entfernt. Ihre Grundaufgabe erfüllen die nationalen europäischen Armeen nicht. Keine einzige von ihnen ist in der Lage, das jeweilige nationale Territorium alleine zu verteidigen, von der EU als solcher ganz zu schweigen. Man schützt sich mit Hilfe der Nato, das heißt Amerikas. Deutschland, Frankreich, Großbritannien mögen das tun können, die Europäische Union kann es nicht. Die EU kann sich nicht bei den USA unterstellen, dafür ist sie zu groß. Sie muss sich selbst verteidigen können, sollte das notwendig werden. Eine gegenseitige Beistandsklausel in militärischen Konflikten gilt seit dem Lissabonner Vertrag auch für die EU-Mitgliedstaaten untereinander. Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine muss die EU ihre realen Verteidigungsmöglichkeiten auf den Prüfstand stellen und den militärischen Notfall in ihre theoretischen Überlegungen mit einbeziehen.
Xavier Solana, Ex-Nato-Generalsekretär und der große alte Mann der europäischen Außenpolitik, will eine Europäische Verteidigungsunion anstoßen und hat dazu Anfang der Woche eine Studie vorgelegt. Die wichtigste Erkenntnis: Für eine solche Union braucht es keine Vertragsänderungen. Solana stellt in seiner Studie das Projekt einer gemeinsamen Armee europarechtlich auf eine Stufe mit der Einrichtung der Energieunion. Eine Anzahl von Ländern kann sich einfach zur Kooperation verabreden und sogar ein militärisches Hauptquartier in Brüssel einrichten. Gemeinsame bi- oder multilaterale militärische Einheiten gibt es schon viele Jahre. Es genüge, diese Kooperationen deutlich zu steigern. Aus den Keimzellen deutsch-holländischer, deutsch-französischer, deutsch-polnischer oder anders zusammengesetzter Einheiten könnte langfristig so etwas wie eine europäische Armee entstehen. Voraussetzung dafür sei lediglich eine gemeinsame Politik und eine entsprechende Roadmap, die Schritt für Schritt umgesetzt werden müsse.
Daran hat es in der Vergangenheit immer gefehlt. Unter dem Druck des russischen Einmarschs in die Ukraine könnte sich das jetzt ändern. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat für seine Forderung nach einer europäischen Armee, die er in einem Interview mit der Welt am Sonntag erhoben hatte, den richtigen Zeitpunkt gewählt. Und er hat auch klar gesagt, dass er Russland damit beeindrucken will. In Deutschland bekam der Luxemburger für seine Überlegungen Unterstützung von der Verteidigungsministerin und aus fast allen politischen Lagern. Ursula von der Leyen ist ganz begeistert und gibt sich überzeugt, dass ihre Enkel die Verwirklichung des Projekts erleben werden. Jetzt dafür kämpfen wird sie nicht. Grüne und Linke, auch in Luxemburg, sind gegen eine europäische Armee. Sie fürchten nach wie vor eine Militarisierung der EU und eine Aushöhlung des Parlamentsvorbehalts. Frankreich drohte schon damit, deshalb die deutsch-französischen Brigaden aufzulösen, da diese dann praktisch nicht einsetzbar seien. Nur zum Anschauen kann sich Frankreich die Brigaden nicht mehr leisten. Einer europäischen Armee steht Frankreich aber seit jeher skeptisch gegenüber. Es will so souverän bleiben wie irgend möglich. Das Land wäre vielleicht zu begeistern, wenn immer ein Franzose die Armee führen würde. Großbritannien ist quer durch alle Parteien grundsätzlich gegen eine europäische Armee.
Antimilitaristen müssten im Grunde ohne Wenn und Aber für eine europäische Armee eintreten, schließlich würden am Ende eines politischen Prozesses für eine solche Armee viele Milliarden Euro eingespart und viele tausende Soldaten weniger im Sold stehen – bei gleichzeitig signifikant verbesserten Verteidigungsfähigkeiten, was zusätzlich die Notwendigkeit sie auch gebrauchen zu müssen unwahrscheinlicher macht. Einen Teil der eingesparten Gelder könnten sie vernünftigerweise für europäische Sozialpolitik einfordern. Es gibt keinen nationalen Haushalt, der für eine solche Politik auch nur einen Euro übrig hätte. Mit der Einrichtung einer EU-Armee mit ihren immensen Synergieeffekten können Schlagkraft und Sicherheit erhöht, die europäische Rüstungsindustrie (und damit die eigene Verteidigungsfähigkeit) für die nächsten dreißig Jahre gesichert und Gelder für eine europäische Sozialpolitik frei werden. Die EU-Länder halten wesentlich mehr Soldaten unter Waffen als die USA, ihre Verteidigungsfähigkeiten werden aber nur auf zehn bis 15 Prozent der amerikanischen geschätzt. Das ist sicherheitspolitischer und wirtschaftlicher Unsinn, den sich niemand leisten kann.
Wenn Jean-Claude Juncker davon spricht, dass eine eigene Armee Europa helfen würde eine gemeinsame „Außen- und Sicherheitspolitik zu gestalten und die Verantwortung Europas in der Welt wahrzunehmen“, dann meint er damit nicht, dass er europäische Armeen zur Unterstützung europäischer Politik aussenden will, sondern dass die Gründung einer europäischen Armee ein Katalysator wäre für eine weitere Integration der EU. Bislang hängt die europäische Außenpolitik am Tropf der EU-Granden, also von Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Eine gemeinsame Armee würde die Situation zwangsläufig ändern und den kleinen Mitgliedstaaten mehr Einfluss sichern, denn sie kann nicht ohne mehr Integration aus der Taufe gehoben werden.
An einer EU-Armee werden sich die europäischen Geister deshalb scheiden. In diesem Punkt hat sich seit den 1950-er Jahren nicht viel verändert, als ein solches Vorhaben im französischen Parlament scheiterte. Eine gemeinsame Armee wäre nicht mehr und nicht weniger als der entscheidende Schritt zum europäischen Bundesstaat. Jean-Claude Juncker täte dennoch gut daran, das Eisen weiter zu schmieden und es nicht bei seinen Interviewäußerungen zu belassen. Die Notwendigkeit einer einheitlichen Außenpolitik, die nicht jede Woche neu verhandelt werden muss, wird jeden Tag dringender, will die EU international ernst genommen werden und handlungsfähig bleiben. Ohne einen mächtigen Katalysator wird dieses Ziel nicht erreicht. Es wäre besser, eigene Ideen der Europäer würden diese Rolle spielen, als das Machtgehabe Russlands.