Es war eine politische Entscheidung, keine rationale, vielleicht eine kurzfristige, eine beeinflusste, eine gut gemeinte, aber schlecht realisierte, als das Kosovo im Februar vor fünf Jahren seine Unabhängigkeit proklamierte. Die Entscheidung sollte den Frieden bringen. Doch der ist brüchig. Und einen unabhängigen Staat. Doch der taumelt. 96 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, so zählt das kosovarische Außenministerium auf seiner Webseite, erkennen den Staat als unabhängig an – das sind nicht einmal die Hälfte aller Uno-Staaten. Palästina wird von 131 Staaten anerkannt. Im Falle des Kosovo machten Frankreich, Großbritannien und die USA mit der Türkei, Albanien und Afghanistan sowie Costa Rica den Auftakt, Luxemburg ließ sich drei Tage Bedenkzeit. Zuletzt erkannte im Oktober letzten Jahres der Inselstaat Saint Kitts and Nevis den Balkanstaat an. Der Oman hat im September 2011 seine Anerkennung wieder zurückgezogen. Zu den Ländern, die die Unabhängigkeit des Kosovo nicht anerkennen, gehören unter anderem die EU-Mitglieder Spanien, Griechenland, Rumänien, die Slowakei und Zypern.
Damit ist das Kosovo ein Prüfstein der Europä-ischen Union. Immerhin stuft die EU-Kommission bereits heute Kosovo als potenziellen Beitrittskandidaten ein – eine Perspektive für das Land, keine Antwort drängender Fragen in der EU wie im Kosovo: Wie hält es jedes Mitgliedsland mit Minderheiten in seinen Grenzen, wie viel Autonomie kann oder muss diesen Minderheiten zugestanden werden – und ob jede nationale Minderheit einen Anspruch, wenn nicht sogar ein Recht hat auf einen unabhängigen, völkerrechtlich anerkannten Staat und nationale Souveränität. Eine Reise in den Norden des Kosovo gibt eine Antwort.
Einsame Täler, tiefe Wälder, weite Ebenen durch die Straßen führen, auf denen Pferdegespannen den Pflug zum nächsten Acker schleppen. Dann Kleinstädte mit Märkten, die in ihrer Betriebsamkeit an Basare erinnern. Und über allem ein trügerisches Bild von Frieden, das sich an jeder Straßenkreuzung, an jedem Ortseingang bricht, wenn schwer bewaffnete Posten passiert werden müssen, die wieder einmal die Personalien überprüfen und nach dem Grund der Reise fragen. Verwandtenbesuch, heißt dann die einstudierte Phrase. Im Norden des Kosovo leben in der Mehrzahl Serben, denen jede nationale Selbstbestimmung verwehrt bleibt. Eine Vereinigung mit Serbien werde es nicht geben, die Grenzen auf dem Balkan seien gezogen, heißt es dazu aus dem deutschen Außenministerium in Berlin. Die Menschen in den Dörfern im Nordkosovo verstehen nicht, warum ihnen das Recht auf Zukunft verwehrt bleibt. Sie nennen es bewusst Zukunft. Im Februar letzten Jahres hielten sie sogar ein Referendum ab. 97,4 Prozent der Befragten lehnten die kosovarische Regierung ab. Die Beteiligung am Referendum lag bei rund 75 Prozent. Sowohl die Regierung des Kosovo als auch Serbiens kritisierten dieses Referendum – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
Spricht man mit den Menschen über das Kosovo fällt sehr oft das Wort „Zukunft“ und die Phrase „Bald wird alles besser werden“. In den vergangenen fünf Jahren hat sich nicht viel getan. Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes hinkt, zu sehr war man mit sich selbst beschäftigt. Wirtschaftlich hängt das Land am Solidartropf Europas – und wird auch lange in dieser Abhängigkeit bleiben. Rund fünf Milliarden Euro hat die EU seit dem Ende des Kosovokriegs in das Land investiert. Nur wenig davon scheint angekommen. Die Menschen haben sich in Handel und Selbstversorgungsökonomie eingerichtet. Fehlende wirtschaftliche Prosperität wird allseits beklagt: So schimpfen die Menschen im Norden über Korruption und Misswirtschaft der Regierung in Prishtina, die sie nicht anerkennen, und die Menschen im Süden über das schwierige Erbe des Kriegs und die Reglementierungen seitens der EU und USA, die das Land an der wirtschaftlichen Entwicklung hinderten. Alles stets mit dem Verweis auf die Geschichte und der Stilisierung in einer selbstgerechtfertigten und selbstgerechten Erwartungshaltung.
Führt der Weg zurück in den Süden, so zeigt sich ein sonderbares Bild des unabhängigen Staates. Die blau-goldenen Flaggen des Kosovo sieht man selten, stattdessen der schwarze Doppeladler auf rotem Grund – die Fahne Albaniens. Die Bevölkerung im Süden bezeichnet sich als Kosovoalbaner, wobei viele auch die ersten drei Silben weglassen. Man liest albanische Literatur, hört die Radiosender aus dem Nachbarland und bekennt sich ohne Zier zu den archaischen Werten des Nachbarn. Die gehörten nun mal dazu – zur Kultur und zu nationalen Selbstverständnis, sagen die Menschen beim Abendessen, und erklären die komplizierten Rituale des Ehrenkodex der Blutrache mit der gleichen Ungerührtheit wie andere die Vorfahrtsregelungen im Kreisverkehr erläutern. Sie wissen auch genau, welche Familie momentan aus welchen Gründen momentan von der Ächtung betroffen ist und welches Opfer sie bringen muss, um in die Gesellschaft zurückzukehren. Europa ist in diesen Momenten ein weit entfernter Kontinent. Es wird differenziert, man habe Anspruch auf den Wohlstand Europas und ein Recht auf die eigene Identität und die eigene Kultur, heißt es dann mit Stolz und vielen Verweisen in eine Historie der Schlachten und Kriege im Balkan.
Kosovo ist ein Land, das an der Wegkreuzung seiner eigenen Zukunft steht. Die Verantwortlichen werden sich entscheiden müssen, ob sie die Unabhängigkeit des Landes weiter festigen, die Wirtschaft entwickeln und dabei den Ausgleich mit Serbien und anderen Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawiens suchen werden. Oder ob das Land nicht doch Teil großalbanischer Träume ist, um früher und später sich mit dem Nachbarland zusammenschließen wird. Über allem schwebt dabei Europa. Die EU wird dabei auf Wohlstandstransfer reduziert und nur darauf. Dass dieser Wohlstand einen Preis haben wird, darauf will man sich nicht einlassen. Schließlich sind da die Geschichte und der Stolz. Eine Auseinandersetzung mit europäischen Werten findet nicht statt. Aber dennoch ist Kosovo ein Teil Europas, das eines Tages dazugehören will. Ganz und gar.