Lang war es nicht, das zweite Gutachten, das der Staatsrat am Dienstag zur Gesundheitsreform machte. So dass der parlamentarische Gesundheits- und Sozialausschuss den Reformtext gestern mit den Stimmen der Koalition annehmen konnte und die Lesung in der Abgeordnetenkammer sogar um zwei Tage vorverlegt und schon für kommenden Dienstag angesetzt wurde.
Sofern nicht noch etwas dazwischen kommt, tritt am 1. Januar eine Gesundheitsreform in Kraft, von der die Bürger lediglich bemerken werden, dass alles teurer geworden ist. Denn die Eigenbeteiligungen an den Gesundheitsleistungen steigen ab Neujahr; manche sogar empfindlich. Wie etwa die täglichen Zuzahlungen bei Krankenhausaufenthalten, über deren Kompensation für ihre Mitglieder die Caisse médico derzeit berät.
Dass die Reform zunächst nur in dieser Hinsicht stärker bemerkbar wird, hat mehrere Ursachen. Eine ist die sukzessive Entschärfung, die der Text mit der Zeit erfuhr. Dass die Gesundheitskasse CNS mehr Leistungen als Direktzahler übernehmen sollte, war eine der Ideen, die Minister Mars Di Bartolomeo (LSAP) in der Auseinandersetzung mit dem Ärzteverband AMMD nach und nach aufgab (d’Land, 3.12.2010). Eine andere ging in die Richtung, die Überwachungskommission, die CNS und Dienstleister bisher als eine Beschwerdeinstanz für Patienten betreiben, zu einem regelrechten Ermittlerorgan im Dienste der Kasse umzubauen. Mit wiederum anderen Reformvorstellungen scheiterte Di Bartolomeo schon im Laufe des Sommers am Koalitionspartner. Die Spektakulärste war die von ihm bevorzugte Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze zur Krankenversicherung, wie sie auch der OGB-L seit Jahren verlangt.
Blieben einige Reformkapitel unterwegs auf der Strecke, treten andere nicht schon am 1. Januar in Kraft. Dass ab 1. April das erste „Globalbudget“ vorbereitet wird, wie es die Krankenhäuser künftig alle zwei Jahre zuerkannt bekommen sollen, werden deren Patienten kaum bemerken. Dass ab 1. Januar 2012 die Apotheker darauf hinweisen, wenn es für ein ärztlich verschriebenes Medikament einen preiswerteren Ersatz mit gleicher Wirkung gibt, dagegen schon. In dem bis dahin verbleibenden Jahr muss das Gesundheitsamt eine Liste der nicht mehr patentgeschützten Generika erstellen, die künftig die „Medikamenten-Erstattungsbasis“ für die CNS bilden wird. Für teurere Arzneien wird dann mehr zugezahlt werden müssen.
Ebenfalls erst ab Neujahr 2012 wird man den Arzt seiner Wahl fragen können, ob er oder sie als „Referenzmediziner“ zu fungieren bereit ist. Nachdem Di Bartolomeo noch die letzte Formulierung aus dem Reformtext gestrichen hat, die den Médecin-référent in die Nähe eines Gatekeeper gerückt hätte, soll er nun ausdrücklich Berater und Begleiter sein.
Zum großen Vorhaben „elektronisches Patientendossier“ treten alle Bestimmungen schon zum kommenden Neujahrstag in Kraft. Doch bleiben noch so viele Unklarheiten auch informatischer Natur zu beseitigen, dass durchaus noch Jahre vergehen können, ehe jeder Bürger über sein ihm „gehörendes“ e-Dossier verfügt, das er gemeinsam mit seinem Referenzarzt führt.
Es kann der Eindruck aufkommen, dass die Reform gar keine sei und ihr die Richtung fehle. Ob das stimmt, werden die kommenden Monate zeigen. Auch in der Fassung, die nach dem 31-Punkte-Konsens des Ministers mit der AMMD und mit dem Krankenhausverband EHL vom 24. November übrig geblieben ist, sieht der Reformtext entscheidende Weichenstellungen vor. Nur: Sie betreffen zum einen nur die Institutionen und professionellen Akteure. Zum anderen sind sie in vielen Fällen nur Vorstufen zu neuen Projekten und Verhandlungen. Dass es da wieder Krach gibt, ist alles andere als ausgeschlossen.
Eines der noch offenen Themen ist der Médecin-référent. Drei Missionen soll er haben: Diagnose und Therapie von Erkrankungen, wie gehabt; daneben aber soll er auch seine Patienten bei der Krankheitsvorsorge beraten und chronisch Kranken helfen, ihren Therapien zu folgen.
Geht man davon aus, dass in den meisten Fällen Allgemeinmediziner als Médecins-référent ausgewählt werden dürften, stellt sich nicht nur die Frage, ob es hierzulande genug von ihnen gibt. Dass laut OECD-Statistik von 2009 hierzulande auf 1 000 Einwohner 0,8 Generalisten kommen, während es in Deutschland und Frankreich doppelt, in Belgien zweieinhalb Mal so viele sind, war ein Grund, weshalb der Staatsrat vor zwei Wochen empfahl, die Referenzmediziner erst 2012 einzuführen.
Doch abgesehen davon sind „Prävention“ und „chronisch Kranke Begleiten“ Tätigkeiten, die dem Luxemburger System mit seinem Payement à l’acte fremd sind. Was vorher auf jeden Fall zu tun bleibt, ist eine Erweiterung des Tarifgefüges. Zu klären bleibt auch, welchen fachlichen Ansprüchen der Referenzmediziner genügen soll. Selbst ohne Vorposten-Rolle auf dem Weg zum Spezialisten könnte er mit Fällen konfrontiert werden, die er vorher nie sah. Im Gesundheitsministerium geht man davon aus, dass dies „keinen“ Luxemburger Allgemeinmediziner überfordere. Andererseits aber wurde die Pflicht zur Weiterbildung für Ärzte jedweder Fachrichtung erst im Juli dieses Jahres ins Gesetz über den Arztberuf aufgenommen, und noch nie unterlag die Formation continue der Ärzte regelmäßiger Kontrolle. In den USA muss jeder Allgemeinmediziner alle fünf Jahre in einem Testverfahren seinen Abschluss neu bestätigen.
Sollte sich zeigen, dass ein Médecin-référent in den Markt von Spezialistenkollegen eindringen könnte, wäre das vermutlich Zündstoff innerhalb der freiberuflichen Ärzteschaft. Doch schon der wissenschaftliche und technische Fortschritt führt dazu, dass Generalisten Diagnosen stellen, die vorher Spezialisten vorbehalten waren. Weil die hierzulande vor allem an Spitälern tätig sind, könnte von der neuen Instanz Referenzmediziner her auch die Rolle der Spitäler in Frage geraten.
Es ist ein Verdienst des Reformtexts, dass er diese Entwicklung wenigstens im Ansatz vorwegnimmt: Dass die Spitäler ihre Kompetenzen bündeln sollen, geht in diese Richtung. Ebenso, dass im Sozialversicherungsgesetzbuch an verschiedenen Stellen Vorkehrungen dafür getroffen wurden, dass die ambulante Chirurgie ausgebaut werden kann. Was noch fehlt, ist die Planung solcher Übergänge. Das ist ebenfalls eine politisch anspruchsvolle Aufgabe. Ob zum Beispiel tatsächlich alle Spitäler im Lande bereit sein werden, von ihren Aktivitäten etwas aufzugeben, damit ein anderes Haus das übernimmt, ist nicht so sicher.
Ein großes Problem der Gesundheitsreform besteht darin, dass sie strukturell angelegt ist, ihr aber keine klare Analyse dessen, was Luxemburg künftig brauchen könnte, zugrunde liegt. Das ist vielleicht auch ein Ausdruck fehlgeleiteter Gesundheitsforschung. Viele Informationen aber können allein deshalb nicht verfügbar sein, weil die Spitäler, in denen das Gros der Gesundheitsversorgung stattfindet, ihre Aktivitäten noch nicht einheitlich dokumentieren. Die Voraussetzungen dafür werden erst ab kommendem 1. Januar geschaffen.
Letzten Endes geschieht das auch auf Druck aus Europa hin: Nächstes Jahr wird die Richtlinie über die grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung verabschiedet werden. Wenngleich sie sich noch in der Vermittlung zwischen Kommission, Gesundheitsministerrat und Europaparlament befindet, scheint eines sicher: Sie wird vorschreiben, dass EU-weit über die Gesundheitsleistungen Preis- und Qualitätstransparenz herrschen muss und jeder Unionsbürger, der eine Auslandsbehandlung auch nur in Erwägung zieht, sich vorab informieren können muss, wo was zu welchem Preis für seine Krankenkasse angeboten wird.
Gegenüber diesem marktorientierten Ansatz gleicht das Luxemburger Gesundheitswesen einer Dunkelkammer. Aber vielleicht wird in der nächsten Legislaturperiode, nach ein paar Jahren analytischer Full-cost-Buchführung und Qualitätsberichten, die nächste Gesundheitsreform entworfen. Auch deshalb, weil der kommende Woche zur Abstimmung gelangende Text keine Spar-Reform ist und ab 1. Januar schon alles teurer wird.