Die Zwischenbilanz zur Grundschulreform beschreibt Anerkennung, Ängste und Ärger von Eltern, Lehrern und Inspektoren. Eine Aussage darüber, ob die CSV-LSAP-Schulpolitik ihr Ziel erreicht, erlaubt sie nicht

Pflichtübung

d'Lëtzebuerger Land du 25.01.2013

Allgemeine Zustimmung, dass eine Reform der Grundschule notwendig ist, aber deutliche Kritik an ihrer Umsetzung sowie an verschiedenen Leitgedanken und Instrumenten. Das ist, grob zusammengefasst, das Ergebnis der Zwischenbilanz der Grundschulreform, die das Unterrichtsministerium und die Universität Luxemburg am Donnerstag gemeinsam der Öffentlichkeit vorstellten.
Wobei der Begriff Zwischenbilanz mit Vorsicht zu genießen ist. Denn eine Bilanz in dem Sinne, dass versucht wird herauszufinden, ob die Ziele der schwarz-roten Bildungspolitik erreicht werden, ist dies nicht. Zum einen, das betonte Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres zu Beginn der Präsentation, und das bestätigen auch Bildungswissenschaftler, lassen sich die Effekte einer Schulreform frühestens in zehn Jahren zuverlässig messen. Zum anderen ist das, was das Ministerium als Zwischenbilanz präsentiert, bestenfalls ein Anfang.
Kern der Bilanz bilden zwei Untersuchungen: eine wissenschaftliche der Universität Luxemburg unter der Leitung von Bildungshistoriker Daniel Tröhler, für die unterschiedliche Akteure der Grundschule über ihre Meinung zu Kernelementen der Reform und deren Umsetzung befragt wurden, sowie eine Analyse des ehemaligen Generalkoordinators aus dem Unterrichtsministerium, Siggy Koeni (siehe S.3). Sie beruht ebenfalls auf Gesprächen und Einschätzungen der Schulakteure.
Nicht in der Zwischenbilanz enthalten sind dagegen die Ergebnisse aus den nationalen Leistungstests von 2011 und 2012, die Épreuves standardisées, aus denen man hätte ablesen können, wie sich die Lernleistungen der Schüler in den Hauptfächern entwickelt haben. Sie bleiben in der Schublade des Ministeriums. Man wolle diese mit den Schulen intern diskutieren, sagte Mady Delvaux-Stehres auf Land-Nachfrage. Außerdem fehlen Verlaufsdaten über Sitzenbleiber oder das Durchschnittsalter der Grundschüler (der Bericht von Siggy Koenig enthält Hinweise, die aber lückenhaft sind), über die tatsächliche Unterrichts-praxis – also objektive Fakten, die Aufschluss darüber hätten geben können, ob die Reform die Schul- und Unterrichtsqualität verbessert. Oder nicht.
Auch wenn die Reform laut Uni-Befragung in ihren Grundzügen weit gehende Akzeptanz sowohl bei Lehrern und Inspektoren als auch bei vielen Eltern findet, gefreut haben dürfte sich die Unterrichtministerin über die Ergebnisse dennoch nicht. Denn bei fast jeder Maßnahme, die das Forscherteam per Fragebogen und in Interviews untersucht hat, antworteten die Befragten mit: „Ja, aber...“
Größter Stein des Anstoßes, das überrascht nicht, sind die Grundschulzeugnisse, die so genannten Bilans intermédiaires. Zum alten Punktesystem will zwar offenbar niemand der Befragten zurück, aber mit den Bilans leben wollen sie auch nicht. Sie seien viel zu komplex, schwer verständlich und auch nicht gut leserlich, so die Meinung vor allem der Lehrer. Nicht einmal jeder fünfte Lehrer, so steht im Unibericht, glaubt, dass die Bilans den Eltern Auskunft über die Lernfortschritte ihrer Kinder geben. Die Eltern sehen die Verständlichkeit der Bilans etwas positiver, vor allem die Bilanzgespräche werden von ihnen geschätzt. Aber richtig glücklich scheinen auch sie mit dem Instrument nicht zu sein. So dass eine von insgesamt drei Empfehlungen der Forscher am Ende des hundertseitigen Berichts lautet, die Zeugnisse zu überarbeiten. Das wäre dann das dritte Mal.
Eng mit den Zeugnissen zusammen hängt der Kompetenzansatz – und er wird von etlichen Lehrern ebenfalls überwiegend kritisch gesehen. Nur haben von den angeschriebenen Lehrern nur 16,6 Prozent die Online-Fragebögen ausgefüllt, womit die Rücklaufquote ausgerechnet bei den Hauptakteuren am niedrigsten liegt. Und wie repräsentativ diese Stichprobe ist, ist ungewiss. Der Tenor zum Kompetenzansatz jedenfalls lautet, dass die beiden Hauptinstrumente, der Plan d’etudes und die Socles des compétences, zu kompliziert und wenig verständlich sind. Die Uni empfiehlt dem Ministerium daher, und die Gewerkschaften dürfte das freuen zu lesen, auch die Kompetenzorientierung zu überprüfen und dabei, bitteschön, zu beachten, dass das „pädagogische Konzept von Kompetenzen, wie dominant von der OECD vertreten, theoretisch schwach abgesichert und dessen oft versteckte Polemik gegen Wissen wenig überzeugend“ sei. Auf Nachfrage präzisiert Studienleiter Daniel Tröhler zwar, in Luxemburg werde eine andere Version des Kompetenzbegriffs benutzt. Was die Uni mit ihrem Rat meint, die Unterrichtsziele stärker an die Schulpraxis zu binden, konkretisierte der Professor nicht. Dabei befindet sich doch gerade diese im Umbruch.
Das ist auch das Problem der Untersuchung. Obwohl die Autoren den Verantwortlichen im Ministerium mit auf den Weg geben, es „wäre wünschenswert gewesen“, das Reformkonzept „öffentlich und wissenschaftlich breiter abgestützt“ zu haben, sind die Empfehlungen der Forscher ebenfalls nicht bildungswissenschaftlich untermauert. Oder zumindest wird nicht ersichtlich, wo sie es sind – und wo nicht. Dass professionelle Direktionen für eine Schulentwicklung unerlässlich sind, darüber sind sich führende Bildungsexperten einig, aber im Bericht findet sich kein Hinweis auf die wissenschaftliche Debatte. Vielmehr scheint die Uni ihre drei Empfehlungen ausschließlich auf die Meinung der Akteure zu stützen.
Sie fällt bei den Inspektoren und Instituteurs ressource, was die demokratisch gewählten Präsidenten der Schulkomitees betrifft, eindeutig aus: Ein „Kompromiss“ mit den Gewerkschaften sei der Präsident, der weitgehend machtlos sei, dessen Kompetenzen ungeklärt seien und dessen Rückhalt im Kollegium entsprechend unsicher sei. Einige würden ihren Job sehr engagiert erfüllen, andere seien „profillos“ und nicht die „Schlüsselfigur“, die es für eine professionelle Schulentwicklung brauche. Einig sind sich alle, Inspektoren wie Präsidenten, dass viele Verwaltungsaufgaben übernehmen und der Arbeitsaufwand enorm ist. Aber heißt das nun, dass der Schuldirektor zwingend kommen muss? Die Uni empfiehlt, diese Frage zu prüfen.
Das Motiv einer überbordenden Bürokratisierung taucht in der Befragung übrigens mehrfach auf, sei es im Kontext des Schulkomitees und seines Präsidenten, den Inspektoren oder der Erstellung des Schulentwicklungsplans, dem Plan de réussite scolaire. Die Präsidenten und Inspektoren sind überzeugt davon, die Verwaltungsarbeit untergrabe die Autonomie der Schulen, die die Reform ja eigentlich stärken wollte. Die Uni rät, die „starr wirkende zentrale Bürokratie“ abzubauen, das „Berichtswesen zu verschlanken“ und „den einzelnen Schulen vor Ort genügend Autonomie und gestalterischen Spielraum für je eigene Lösungen“ zu lassen – die diese dann freilich ergreifen müssten.
Ob sie das wollen – und ob sie mehr Verantwortung auf didaktischer, methodischer und organisatorischer Ebene überhaupt schultern können, ist unklar, denn es wurden lediglich Stimmungen abgefragt. Sicher ist es wichtig, die Einschätzung und Meinung der Betroffenen zu hören. Sie sind die Praktiker, und eine Reform steht und fällt mit der Akzeptanz und Umsetzung durch die Akteure. Aber reicht deren Befragung aus, um die Kernfrage zu beantworten, ob bildungspolitische Neuerungen in die richtige Richtung gehen? Jede der befragten Gruppen, bei der übrigens die Schüler sowie die Gemeindevertreter fehlen, hat eigene Interessen und Schwerpunkte. Und anders als manche glauben machen wollen, sind diese keineswegs immer fachlich begründet, sondern ergeben sich aus korporatistischen Motiven, aus einem mehr oder weniger zeitgemäßen Berufsverständnis, oder einfach aus liebgewonnenen Gewohnheiten und Privilegien. Dass die Bürokratie, die die Grundschulreform mit sich bringe, ein wieder kehrendes Thema insbesondere für die Lehrer und Präsidenten der Schulkomitees ist, hat wohl reelle Ursachen: Mit der Reform müssen erstmals Sitzungsberichte geschrieben und Fragebögen zur externen Rechenschaft beantwortet werden. Aber objektiv beziffert ist der zeitliche Mehraufwand, den beispielsweise ein Komitee-Präsident für die Verwaltung aufbringt, nicht. Das Gleiche gilt für den differenzierten Unterricht, den die Lehrer für das wichtigste Ziel der Schulreform halten. Wie viele tatsächlich differenziert unterrichten, das hat die Studie nicht untersucht.
Interessenkonflikte lassen sich erkennen, wenn man die Antworten der Lehrer mit denen der Eltern vergleicht: Während die Eltern den Mitbestimungsgedanken und die Einbindung der Eltern für ganz wichtig halten, bewerten Lehrer ihre Bedeutung nicht so hoch. Und auch die Eltern sind sich nicht immer einig. So messen nicht-luxemburgische Eltern dem Grundsatz, die Vielfalt der Schüler im Unterricht stärker zu berücksichtigen und eine gerechte Schule für alle zu schaffen, mehr Bedeutung bei als Luxemburger Eltern. Interessante Informationen, die aber nicht neu sind, sondern das bestätigen – nun wissenschaftlich untermauert–, was Lehrer, Eltern und Gewerkschaften schon früher zur Reform geäußert haben.
So resümiert die Ministerin, was zu erwarten war: Die Richtung stimme, jetzt müsse noch im Einzelnen nachgebessert werden. Mady Delvaux-Stehres kündigte an, mit den Schulpartnern in den kommenden Wochen und Monaten gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Weil die Beratungen mit den Gewerkschaften über die umstrittenen Bilans zuletzt gescheitert waren, soll nun die Uni ein konsensfähiges Modell erschaffen beziehungsweise seine Erstellung moderieren. Ob das bis Sommer 2013 vorliegen wird, darauf wollte sich Daniel Tröhler aber nicht festlegen.
Bleibt die Frage, was das Ministerium von der Zwischenbilanz hat, wenn doch die Schlüsselfrage, ob nämlich die schwarz-rote Schulreform der richtige Ansatz ist, um die Qualität der Schulen und des Unterrichts zu steigern und die enorme soziale Selektivität des Luxemburger Schulsystems zu mindern, weiter ihrer Antwort harrt. In Zeiten der Wirtschaftskrise wären die rund 110 000 Euro, die beide Studien zusammen gekostet haben, vielleicht besser anderswo investiert. Mady Delvaux-Stehres hat rechtzeitig vor den Wahlen eine unangenehme Aufgabe erledigt. Sie sei durch das Regierungsprogramm dazu verpflichtet, betonte die Unterrichtsministerin, die die Bilanz noch am selben Tag dem Parlament vorstellte. Bis zum Redaktionsschluss lagen dazu keine Reaktionen vor, aber zweifellos wird die Opposition – und vielleicht sogar die CSV – den Druck bei der Frage der Schuldirektoren erhöhen. Den Ansatz der Zwischenbilanz glaubwürdig kritisieren kann die Opposition, außer ADR und déi Lénk, kaum, schließlich hat sie die Reformrichtung – wenn auch mit Vorbehalten – unterstützt und die frühe Zwischenbilanz selbst verlangt.

Ines Kurschat
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