Als vor gut einem Monat die parlamentarische Familienkommission zusammenkam, um über die bevorstehenden Schwerpunkte der Legislaturperiode zu beraten, waren dem neuen Kinder- und Familienhilfegesetz gerade einmal zwei Sätze gewidmet. So stand es im Sitzungsprotokoll geschrieben, das die Grünen auf chamber.lu veröffentlichten. Die geringe Beachtung im Parlament, das lässt sich feststellen, entspricht nicht der Realität im Sektor.
Spätestens seit der Verabschiedung des umstrittenen Textes im Dezember ist hektische Betriebsamkeit ausgebrochen: Seit Januar dieses Jahres sitzen Träger aus dem Jugendhilfesektor,Heimleitungen sowie Experten aus der Uni mit dem Familienministerium zusammen, um über fehlende Ausführungsbestimmungen und Umsetzung des komplexen Werkes zu beratschlagen, das die Kinder- und Jugendhilfe neu strukturieren soll. In vier Arbeitsgruppen wird über Qualitätsentwicklung,Aufbau und Funktionsweise des neu geschaffenen Office national del’enfance (ONE), eine Art Jugendamt, über die neue Leistungsfinanzierung und so genannten Fallmanagern nachgedacht – in einem „guten“ und „offenen“ Klima wie Träger und Ministerium einvernehmlich betonen. Erste Zwischenergebnisse sollen im Rahmen der Journées nationales de l’enfance am 19. und 20. November auf dem Campus Walferdingen der Uni Luxemburgpräsentiert werden.
Stichwort Qualität: Nachdem die Heimleiter eine Art freiwillige Selbstverpflichtung für eine qualitativ hochwertige Beratung und Betreuung von Kindern und ihren Familien unterzeichnet hatten, war als nächste die Uni Luxemburg an der Reihe, professionelleStandards für mehr Qualität in der Erziehungshilfe zu entwickeln(d’Land, 21.12.2007). In enger Zusammenarbeit mit dem Heimleiterverband Adca, der Entente des gestionnaires des centres d’accueil (EGCA), dem Ministerium und ausländischen Experten wurde unter der Leitung der Sozialpädagogin Ulla Peters ein Konzept erstellt, das derzeit in vier Heimen, dem Jongenheem, dem Kannerhaus Junglinster, dem Escher St. Elisabeth und dem FadepDon Bosco, auf seine Eignung getestet wird. Offenbar mit Erfolg, auf jeden Fall ist von den Protagonisten viel Positives zu hören. Man habe „Abläufe systematisiert“ und „Prozeduren verbessern“, heißt es beispielsweise.
Mit Hilfe von Entwicklungsplänen und Mitarbeiter-Fortbildungenwollen die Leistungsanbieter „transparente Dienste“ liefern. Die Partizipation der Jugendlichen und ihrer Eltern an ihrem Hilfeplan soll ein weiterer Schwerpunkt sein.
Ebenfalls im Selbstversuch haben drei andere Einrichtungen probiert, ihre Dienste über leistungsbezogene Tarife abzurechnen. Eine offizielle Zwischenbilanz gibt es noch nicht, klar ist aber schon jetzt, dass dieser Testballon im Sektor mit besonders viel Skepsis beäugt wird, geht es doch ums Eingemachte: dem Geld. Weil die Testpiloten mit neuem und im Schnitt deutlich jüngerem Personalangefangen haben, seien die Ergebnisse nicht verallgemeinerbar, wird moniert. Manch einer spricht gar von einem „gescheiterten Testlauf“.
Die ursprünglich dreistufige Tarifstruktur – Basistarif, orthopädischerTarif und therapeutischer Tarif – wurde um zwei Stufen ergänzt, fürNotfalldienste und für besonders personalintensive Dienste an Kindern unter drei Jahren. Weil die Heime mit den ursprünglich kalkulierten Sätzen nicht einmal ihre Behandlungskosten decken konnten, wurden diese nach oben korrigiert. Konkrete Angaben zur Höhe macht das Ministerium lieber nicht, wohl um die neugewonnene konstruktive Zusammenarbeit mit dem Sektor nicht zu gefährden. Land-Informationen zufolge liegen die überarbeiteten Tarife durchschnittlich um 15 bis 20 Prozent höher.
„Die Liste ist im fortgeschrittenem Stadium, aber noch provisorisch“, sagt Nico Meisch, Regierungsrat im Familienministerium und zuständig für die Umsetzung des Gesetzes. Im Land-Gespräch betont Meisch, dass „keine Einrichtung bestraft werden“ dürfe, wenn sie mit älterem Personal arbeitet. Noch konnten die Leistungsanbieterwählen, ob sie bei der Restrisikofinanzierung bleiben oder auf Leistungspauschalen umsteigen. Laut Artikel 17 des Gesetzes kannder Staat Defizite, die Leistungsträgern aufgrund der Personalstruktur, schwankender Belegzahlen oder Umstrukturierungen oder Innovationen entstehen, übernehmen. Er muss aber nicht. Es handele sich um „eine Übergangsbestimmung“, sagt ONE-Leiter Jeff Weitzel, so dass die Defizitfinanzierung ab Januar 2011 „progressiv abnehmen“ werde.
Doch bevor sich die Träger für die neue Finanzierung entscheiden,muss geklärt sei, wie Bewertung und Zuteilung der Fälle erfolgen. Mit dem Ministerium wurde sich auf die Einrichtung von coordinateurs des projets d’intervention, CPI, verständigt. Als Fallmanager sollen sie Jugendlichen und ihren Eltern zur Seitestehen, erzieherische Maßnahmen vorschlagen und ihre Umsetzungbegleiten. Ob adäquate Hilfen angeordnet wurden, darüber wacht das ONE, dem die Dienste unterstellt sind. „Die CPI haben den Vorteil, dass sie näher an der Praxis sind“, so Weitzel. Um Interessenkonflikten zu vermeiden, sollen die CPI nicht über Fälle entscheiden, die in ihrer Einrichtung betreut werden – was beigrößeren Trägern mit verschiedenen Diensten aber nicht so leicht werden dürfte. Deshalb sei die Kontrolle durch den ONE, das „eine Rolle als Krankenkasse“ spiele, so wichtig, betont Nico Meisch.
Für eine effektive Kontrolle braucht es aber einen starken Dienst: Außer dem Direktor und einer Halbtagskraft im Sekretariat ist aber noch kein weiteres Personal an Bord. Im diesjährigen Haushaltsentwurf sind für den ONE rund 377 000 Euro vorgesehen,davon machen die Personalausgaben 40 Prozent aus. 15 Stellen hat das Ministerium für die kommenden Jahre angefragt, aber Illusionen über eine rasche Genehmigung macht sich angesichts der Haushaltslage keiner: „Das kann dauern“, dämpft Meisch allzu große Erwartungen.
Ungeklärt ist auch, was die CPI, die in allen Regionen quasi rund um die Uhr vertreten und für ihren Einsatz geschult sein sollen, kosten werden. Das Ministerium prüft derzeit mögliche Ausbildungskonzepte, darunter eines der Uni Luxemburg. Für eine erste Pilotphase, die 2010 starten soll, sind bisher etwa 25 000 Euro im Ausbildungstopf. Nicht gerade üppig, wenn man bedenkt, dass 50 Teams à vier Fachkräften durchschnittlich etwa 25 Fälle monatlich betreuen sollen. Der Satz, nach dem die Arbeit der CPIabgerechnet werden soll, bewegt sich neuesten Angaben zufolge zwischen 350 und 390 Euro pro Fall.
Das alles klingt, ausgerechnet im Krisenjahr, nach Mehrinvestitionen, und tatsächlich könnte, wer das Gesetz als Gelegenheit versteht, um in der Jugendhilfe den Rotstift anzusetzen,schon bald eine böse Überraschung erleben: Erfahrungen aus dem Ausland zeigen, dass die Einführung von Tarifstrukturen undeine verstärkte Professionalisierung und Flexibilisierung der Erziehungshilfedienste noch lange nicht mit geringeren Kosten gleichzusetzen sind. Im angrenzenden Rheinland-Pfalz beispielsweise wurde das Angebot der ambulanten Versorgung inden vergangenen Jahren stetig verbessert und ausgebaut. Gleichzeitigschrumpfte die Anzahl der stationär betreuten Fälle entgegen den vorallem von Politikern geschürten Erwartungen nicht: Sie stagnierteauf demselben Niveau. Für Kritiker ein Beweis dafür, wie schwierig es ist, einmal geschaffene Infrastrukturen wieder abzubauen.
Angesichts einer steigenden Kinderarmut in der BRD klingt eine andere Erklärung aber ebenfalls plausibel: dass die Zahl der Hilfe bedürftigen Familien wächst. Eine ähnliche Entwicklung ist auchfür Luxemburg denkbar: Die Professionalisierung und Spezialisierung des Sektors hat ihren Preis. Nicht nur müssen Fortbildungen bezahlt werden, auch die geplante Aufnahme der bislang ins Ausland überwiesenen Härtefälle bedeuten Mehrkosten,die sicherlich nicht durch noch zu bestimmende Kostenbeteiligungenvon Eltern respektive Jugendlichen aufgefangen werden können. So soll die Anzahl der Therapieplätze für schwer verhaltensauffällige Kinder ausgebaut werden, das Kannerschlass Suessem wird sich vergrößern. Und dann wären da die Wartelisten für bereits bestehende Hilfsangebote. „Die müssen wir unbedingt abbauen“, so Jeff Weitzel. Sein nüchtern-pragmatischer Ausblick lautet daher: „Wir haben schon viel geleistet, wenn die Zahl der stationären Behandlungen nicht weiter steigt und wir bei den Einweisungen präziser arbeiten.“