Wahrscheinlich waren die Medien noch nie so voll von Beschreibungen des Berufsbilds „Diplomat“ wie diese Woche, nachdem Wikileaks damit begonnen hat, Depeschen von US-Botschaften im Internet zu veröffentlichen: Geschäftsgrundlage der Diplomatie seien die Vertraulichkeit und die Pflicht, stets den Schein zu wahren. Selbst wer den Kürzeren ziehe im manchmal brutalen Interessenkampf der Diplomatie, verabschiede sich von der Gegenseite stets mit einem Handschlag.
Dass damit nun Schluss sein soll, ist vielleicht übertrieben. Aber ganz bestimmt sind die Veröffentlichungen für die US-Diplomatie eine Katastrophe und ein schwerer Schlag für ihre Glaubwürdigkeit. Um die ringt sie seit der Bush-Ära im Grunde weltweit; dass ausgerechnet unter der Präsidentschaft Obamas die Bespitzelung der UN angeordnet wurde, ist deshalb nicht nur ein Skandal, sondern ein weiterer Beitrag zur Entzauberung des einstigen Hoffnungsträgers im Weißen Haus.
Die Frage ist aber nicht nur die, ob in den Geschichtsbüchern einmal stehen wird, dass im Jahr 2010 das Ende der klassischen Diplomatie, wie man sie bis dahin kannte, schlug. Und dass anschließend – vielleicht – unerwartete Konflikte entstanden, weil die Diplomatie nun zur Vorlage für einen ständigen Geheimnisverrat geworden war, den man beging oder nicht, je nach politischem Kalkül.
Denn eigentlich sind die Veröffentlichungen und die Datenlecks, die dazu den mehr oder weniger brisanten Stoff lieferten, nicht das Problem. Sie sind Phänomene einer größeren Entwicklung. Zu ihr gehören einerseits die Digitalisierung von Informationen und die wachsende Vernetzung. Wenn nun bekannt wurde, dass die US-Botschaft in Paris Sarkozy für „autoritär“ hält, dann ist das letzten Endes dasselbe, als wenn aus dem weltweiten Netzwerk von Facebook mit seiner halben Milliarde Nutzer private Daten ausgelesen werden können. Daten haben nun mal die Angewohnheit, sich zu verbreiten. Wer sie sammelt und hortet, muss das wissen. Der Stand der Technik ist offenbar so weit vorangekommen, dass man sagen kann, dass digitale Daten sich keiner Macht beugen. Andererseits sind es die menschliche Neugier und der Wille, mitbestimmen zu wollen, die die größere Entwicklung mitprägen. Das Internet verheißt ja nicht nur, online einzukaufen. Zumindest ein Teil der Menschen erwartet davon auch mehr Wissen und mehr Partizipation.
Die Wikileaks-Veröffentlichungen spitzen die Frage zu, ob es zu mehr informationeller Aufklärung kommen wird oder zu einer Informationskontrolle im großen Stil. Als in Luxemburg vor einem Jahr die Grünen begannen, Sitzungsberichte der parlamentarischen Ausschüsse ins Netz zu bringen, schlug ihnen zunächst der empörte Vorwurf entgegen, die Vertraulichkeit der Ausschüsse zu brechen. Wenig später traf das Parlament den ebenso streitbaren wie unvermeidlichen Beschluss, die Berichte generell zu publizieren. In der Welt-Außenpolitik geht es natürlich um viel, viel mehr. Das politische Problem aber ist dasselbe: Technisch ist es nicht nur möglich, dass geheime Daten entwendet werden. Sie können auch blitzschnell weltweit eingesehen werden. Da sich zugleich eine weltweite Netz-Community bildet, die diese Daten auch politisch nutzt, muss sich entweder eine erweiterte Demokratie mit neuen Checks and balances entwickeln, oder ein neuer Autoritarismus. Die Alternative wäre, den technischen Forschritt aufzuhalten. Weil das schlecht geht, haben die USA unterdrückerischen Regimes stets empfohlen, keine Internet-Zensur auszuüben. Nun werden in den USA die Vorkehrungen zur Datensicherheit verschärft.