Das Verwunderliche an der Debatte über das Archivgesetz, die durch den Historiker Benoît Majerus neu angestoßen wurde, ist, dass sie, einem Karussell ähnlich, im Kreis dreht – und das seit mehreren Jahren. Die Akteure sind die gleichen geblieben: Da wären auf der einen Seite die Nationalarchive, die seit 2003, dem Geburtsjahr der Uni, von Josée Kirps geleitet werden; auf der anderen stehen die Forscher, unter anderem in der Form des 2017 gegründeten Forschungszentrums Centre for Contemporary and Digital History (C2DH). Die Rolle der Vermittlerin spielt die Kulturministerin Sam Tanson (Grüne).
2018 traten sowohl das Archivgesetz, um das es geht, als auch das europäische Datenschutz-Reglement in Kraft. Beides war überfällig, über die Interaktion und Auswirkungen dieser zeitgleichen Veränderung diskutiert man seitdem trotzdem. Denn das Archivgesetz, das im Vergleich zum Ausland hohe Schutzfristen auf Dokumenteneinsicht legt, kritisieren vor allem Historiker/innen als zu restriktiv. Sobald ein Dokument persönliche Daten enthält, legt sich eine Schutzfrist von 75 Jahren darauf. Handelt es sich um finanzielle, dem Bankgeheimnis zuträgliche Daten, bleiben sie 100 Jahre unter Dach und Fach, was gut zum Finanzplatz passt. Forscher/innen können eine Befreiung im Rahmen ihrer Recherchen beantragen.
In einem kürzlich publizierten Blogpost mit dem Titel „Was haben die Nationalarchive zu verbergen?“ erklärt der Historiker Benoît Majerus die Begebenheiten, die ihm im Rahmen einer Recherche zur Verbindung zwischen Panama und Luxemburg im Hinblick auf Offshore-Aktivitäten wiederfuhren – und schafft damit Öffentlichkeit für einen Konflikt, der bisher eher in den genannten Fachkreisen schwelte. Nachdem Majerus eine Befreiung beantragt hatte, erhält er nach mehreren Wochen eine positive Antwort. Allerdings müssten die Dokumente noch anonymisiert werden, was Zeit in Anspruch nehme, heißt es. Ende Juli erreicht ihn die Einwilligung zur Einsicht, Ende August schaut sich Majerus die Dokumente an. Sie wurden vielerorts völlig geschwärzt, was „jegliche historische Arbeit unmöglich macht“, wie er in seinem Beitrag schreibt. Zudem habe sich ein Mitarbeiter neben ihn gesetzt, um ihm über die Schulter zu schauen und zu verhindern, dass er die Unterlagen fotografiert. Diese Veränderungen im Prozedere seien plötzlich und ohne weitere Erklärung aufgetreten.
Im Februar dieses Jahres hatte die Kulturministerin dafür gesorgt, dass sich Archivar/innen (auch aus Deutschland, Frankreich und Belgien) und Vertreter der Forschung in der Abtei Neumünster an einen Tisch setzen, um über mögliche Lösungsansätze zu diskutieren. Ironischerweise gibt etwa Nina Janz, ehemalige Forscherin am C2DH, an, seit Anfang des Jahres habe sich die Lage für Wissenschaftler verschlechtert. In ihrer Forschung über die Kollaborateure habe sie insgesamt das Gefühl bekommen, es herrsche in den Archiven Angst vor, dass beispielsweise Luxemburger, die in der Waffen-SS gewesen seien, durch den Dreck gezogen werden könnten. „Mir fehlt der Aspekt der Beratung und der Kollaboration. Archiv und Wissenschaft sollten Hand in Hand gehen“, seufzt sie. Nina Janz sieht auch ein, dass das Archiv mit den Arbeiten der Inventarisierung und den exponentiell angestiegenen Rechercheanfragen sehr viel zu tun hat.
Die Präsidentin des Nationalarchiv, Josée Kirps, zeigt sich von alldem wenig irritiert und weicht aus. Das Archivgesetz sei „ein Kompromiss“ gewesen, es sei eine politische Entscheidung, verschiedene Archive zu öffnen und allen zugänglich zu machen. Das würde sie befürworten, auch wenn sie die Rolle des Archivs zum Teil darin sieht, die Bürger/innen und ihre Privatsphäre zu schützen. Jeder müsse etwas „Wasser in seinen Wein gießen“ um einen „gemeinsamen Weg“ zu ermöglichen. Natürlich bedauere sie die Situation, dass durch das Archivgesetz gewisse Akten, die vorher zugänglich waren, es nun nicht mehr sind. Gleichzeitig schiebt sie die Schuld von sich und den Wissenschaftler/innen zurück in die Schuhe. Zumindest teilweise. Sie würden sich dem bürokratischen Aufwand nicht ausreichend beugen. Konkret geht es um eine Prozedur namens garanties appropriées. Darin verpflichten sich die Forscher, personenbezogene Daten nicht zu veröffentlichen. Allerdings ist diese Prozedur nicht Teil des gängigen Befreiungsformulars, das Wissenschaftler ausfüllen. Auf der Webseite des Archivs steht kein Hinweis darauf, man findet es allein im Datenschutzreglement. Im Falle von Benoît Majerus hat das Außenministerium, aus dem die Dokumente stammen, auf die Anonymisierung bestanden. Andere Länder würden ebenso auf diese Praxis zurückgreifen, auch was nicht klassifizierte Dokumente angeht, behauptet Josée Kirps, die seit vergangenem Jahr Präsidentin der International Council on Archives (ICA) ist. Auf die Frage vom Land hin, ob das etwa im Bundesarchiv Deutschland gängig sei, anwortet die dort angesiedelte Pressestelle, die Frage würde sich meist nicht stellen, da die meisten Unterlagen ohne Beschränkungen zugänglich seien. Für den speziellen Fall, dass personenbezogene Unterlagen noch der Schutzfrist unterliegen, und die betroffenen Personen einer beantragten Einsichtnahme nicht zugestimmt haben, ist nach dem deutschen Archivgesetz die Vorlage von anonymisierten Reproduktionen eine Option, mit der eine Benutzung eventuell dennoch ermöglicht werden kann. Das Bundesarchiv bevorzuge aber die ebenfalls im Gesetz aufgezeigte Option, von den Benutzenden Verpflichtungserklärungen einzuholen, in der die Forscher/innen sich verpflichten, die Rechte der betroffenen Personen zu wahren. „Dieser Weg kommt den Benutzenden erfahrungsgemäß sehr viel mehr entgegen und spart dem Bundesarchiv einigen Verwaltungsaufwand, ohne dass bisher verstärkter Missbrauch zu beobachten wäre“, heißt es weiter.
Denis Scuto, Vizedirektor des Forschungszentrums C2DH, meint, in dem Prozedere hierzulande eine Hierarchisierung und Vermischung der beiden Gesetze zu erkennen. Er bedauert die „rigide Interpretation“ des Datenschutzes, und erklärt, die Anonymisierung vor der Veröffentlichung, also bei einer reinen Begutachtung der Dokumente, sei schlicht und einfach „falsch“. Auch er stellt einen Vertrauensdefizit fest, Forscher litten hier an einem „Standortnachteil“. Im Juni erhöhten die Forscher/innen (erneut) den Druck und schrieben an die Kulturministerin mit Forderungen für eine Gesetzesänderung. Allen voran verlangen sie die Verkürzung der Schutzfristen und die Einführung einer Rechercheerklärung, wie sie etwa in Belgien und Deutschland benutzt wird – in der die Verantwortung für den Schutz und die Rechtwahrung auf die Forscher übertragen wird.
Josée Kirps scheint es dagegen etwas weniger eilig zu haben. Sie empfindet ein Ungleichgewicht zwischen der rasanten Entwicklung der Forschung und den Ressourcen, die dem Archiv zur Verfügung stehen. Sie erzählt von einer Verspätung, die man dabei sei, aufzuholen. Es ist ein Diskurs, den sie auch schon vor vier Jahren pflegte. Auf dem Heiligen Geist Plateau wurden seit 2019 27 Leute eingestellt, das Team hat sich mehr als verdoppelt. Das Nationalarchiv verfügt über ein Budget von knapp 7,15 Millionen Euro (3,89 Prozent des gesamten Kulturbudgets). Trotzdem werde man der Arbeit kaum gerecht, sagt Josée Kirps. Die Forscher/innen prangern ihrerseits eine Ressourvenverschwendung an, wenn Archivare tagelang damit beschäftigt seien, Dokumente zu schwärzen.
Stehen sich also hier die in Luxemburg noch junge, moderne Recherchekultur und gestandener, staatlicher Bürokratismus im Weg? Denis Scuto weist darauf hin, dass ihm eine Archivarin mitteilte, dankbar zu sein, ihre Doktorarbeit abgelegt zu haben, bevor dieses Gesetz in Kraft getreten ist – ansonsten hätte sie ihre Recherche nicht vollenden können. Eine Gegenüberstellung von verstaubten Archivaren und dynamischen Forscher/innen funktioniert demnach nur bedingt. Bleibt jedoch festzustellen, dass (oft ausländische) Doktoranden und Akademiker/innen anderen Temporalitäten unterworfen sind als Staatsbeamte. Die Verträge laufen über drei bis fünf Jahre, die Zeit drängt. Die Forscher/innen und die Präsidentin des Archivs sind sich einig, dass es ein neues Gesetz braucht. Auch Sam Tanson, die im Gespräch mit dem Land erklärt, dieses Thema gehöre in einen neuen Koalitionsvertrag. Bleibt sie im Amt, würde sie der Forderung nach verminderten Schutzfristen und der Öffnung gewisser Bestände als Teil eines neuen Gesetzes nachkommen. Fragen über die garanties appropriées tut sie als Detailfragen ab, obwohl es keine sind – und leitet an Josée Kirps weiter.
Im Kulturministerium werde derzeit an „konkreten Pisten“ zu einem Vor-Gesetzentwurf zum Archivgesetz gearbeitet, ein Prozess der laut Ministerium „noch andauert“. Vor den Wahlen soll ein zu diskutierender Text vorliegen. Somit handelt es sich für Sam Tanson um eine Baustelle, die sie nicht gebührend aufräumen konnte. Wer das Kulturministerium nach den Wahlen leiten wird, weiß nur die Kristallkugel. Das Ganze könnte durchaus weiter verschleppt werden. Soweit will Denis Scuto es nicht kommen lassen: „Wir werden nicht loslassen, bis die elementaren Bedingungen erfüllt sind.“ Wird kein zeitnaher Kompromiss gefunden, würden die Wissenschaftler rechtliche Schritte einleiten.