Stefan Braum, Professor für Strafrecht an der Uni Luxemburg, über das Bettelverbot, staatliche Repression und die Krise des Rechtsstaats

„Damit beschreitet man einen gefährlichen Weg“

Repressive Polizeiaktion am frühen Mittwochabend in der Rue Joseph Junck
Foto: LL
d'Lëtzebuerger Land vom 09.02.2024

Land: In den vergangenen Wochen wurde auf politischer Ebene viel darüber diskutiert, ob es in Luxemburg eine strafrechtliche Grundlage für das per Reglement von der Stadt Luxemburg beschlossene und vom Innenminister genehmigte Bettelverbot gibt. Wie schätzen Sie als Professor für Strafrecht diese Diskussionen ein?

Stefan Braum: Die Diskussionen sind eigentlich schwer zu verstehen, denn es fehlt an einer klaren, unzweideutigen Rechtsgrundlage für das Verbot der Bettelei. Mit einem Redaktionsversehen des Gesetzgebers bei der Abschaffung dieser Rechtsnorm kann man nicht begründen, dass der Gesetzgeber den Wegfall dieser Gesetzesgrundlage eigentlich nicht wollte. Im Gegenteil: Es ist ein Argument dafür, dass es an dieser gesetzlichen Grundlage fehlt, denn nach dem Gesetzlichkeitsprinzip (principe de légalité) setzt eine Straftat ein Gesetz voraus. Ein Gesetz ist nur dann im Einklang mit diesem Prinzip, wenn es bestimmt (déterminé) ist – es muss einen bestimmten Inhalt haben. Bestimmt ist es nur, wenn der Rechtsanwender klar und unzweideutig erkennen kann, was verboten, was strafbar ist, und was nicht. Wenn die Gesetzgebungsgeschichte schon deutlich macht, dass der Gesetzgeber offensichtlich nicht mehr genau wusste, was er wollte, dann ist das ein Argument dafür, dass eine solche Rechtsgrundlage eben nicht bestimmt genug ist.

In einer Sitzung des Gemeinderats der Stadt Luxemburg behauptete der CSV-Schöffe und Abgeordnete Laurent Mosar, Jurisprudenz könne nur von einem Gerichtshof, am besten vom Verfassungsgericht kommen. CSV-Premierminister Luc Frieden argumentierte im Parlament ähnlich. Sind die Rechtssprechungen des Polizeitribunals nichts wert?

Der Gesetzgeber, die Exekutive, jeder im Staat, ist an Recht und Gesetz gebunden. Und folglich auch an richterliche Entscheidungen – unabhängig davon, auf welcher Hierarchie-Ebene des Justizsystems sie getroffen wurden. Jeder muss sich an Urteile halten, auch wenn sie von unteren Gerichten ausgesprochen wurde. Der Kernbestand des Rechtsstaats ist die Bindung an Recht und Gesetz. Für diese Verbindlichkeit des Rechts kann es nicht darauf ankommen, ob ein Urteil vom Polizeitribunal oder vom obersten Gerichtshof gesprochen wurde. Sie sagen ja auch nicht, ich bezahle meinen Strafzettel nicht, weil er vom Polizeitribunal kommt, warten wir mal ab, bis das Verfassungsgericht darüber entscheidet.

DP-Gemeinderat Claude Radoux riet der Staatsanwaltschaft, sich zur Wahl zu stellen, wenn sie Politik machen wolle. Ähnliche Aussagen über die vermeintliche Politisierung der Justiz kennt man von Rechtspopulisten in Italien, Polen oder Ungarn. Wie gefährlich sind solche Unterstellungen?

Ich warne davor, dass man durch politische Äußerungen die Akzeptanz und Autorität des Justizsystems untergräbt. Vielleicht ungewollt wird dadurch doch indirekt der Eindruck vermittelt, als seien richterliche Entscheidungen auf unterer Ebene irgendwie nicht bindend für die Politik und damit auch nicht für den Bürger. Damit beschreitet man einen gefährlichen Weg, der den Respekt vor justizieller Autorität und mithin auch vor dem Recht, das da gesprochen wird, möglicherweise erodieren lässt. Die Bindung an Recht und Gesetz ist umfassend. Sie gilt für den Bürger, sie gilt aber vor allem für staatliche Instanzen wie Exekutive und Legislative. Das ist das Kernelement eines demokratischen Rechtsstaats. Solche Äußerungen lassen sich gerade in populistischen Debatten allzu leicht nutzen und können langfristig dazu führen, das Vertrauen ins Rechtssystem zu beschädigen.

Justizministerin Elisabeth Margue (CSV) hat nun offenbar eingesehen, dass es für das Verbot der mendicité simple im Strafgesetzbuch keine strafrechtliche Grundlage gibt. Im Rahmen einer Reform will sie die mendicité simple auch künftig nicht verbieten, den Gemeinden aber die Möglichkeit geben, Einschränkungen über kommunale Reglements vorzunehmen. Ist beides überhaupt miteinander vereinbar?

Das geht eigentlich nicht. Auch ein strafbewehrtes Gemeindereglement bedarf einer Rechtsgrundlage im code pénal, dass Betteln strafrechtlich untersagt ist. An dieser rechtlichen Grundlage fehlt es eben. Der Gesetzgeber müsste sie erst schaffen. Dann kommt es natürlich auf deren Ausgestaltung an: Wenn das Reglement beispielsweise Strafen vorsähe, ginge das nicht. Wenn das Reglement vorsieht, dass jemand, der an bestimmten Orten oder Plätzen in einer Gemeinde bettelt, dort des Platzes verwiesen werden könnte, dann ginge das gegebenenfalls. Selbst wenn man jetzt versucht – ohne weitere Gesetzesänderung – das verwaltungsrechtlich zu regeln, würde man sich in einer rechtlichen Grauzone bewegen.

In anderen Ländern scheint es aber möglich zu sein, auf regionaler oder lokaler Verwaltungsebene das Betteln zu verbieten, obwohl es keine strafrechtliche Grundlage dafür gibt.

In Frankreich steht lediglich die aggressive Bettelei unter Strafe und nur, wenn sie im Zusammenhang mit dem Menschenhandel erfolgt. Dann sind aber nicht die Bettelnden dafür strafbar, sondern die Verantwortlichen – also die Strukturen, die hinter solch organisierter Bettelei stehen. In Deutschland ist auf Strafrechtsebene das sogenannte Landstreichen und Betteln schon in den 1970-er Jahren abgeschafft und aus dem Strafrecht herausgenommen worden. Das waren alte Straftatbestände aus dem 19. Jahrhundert, die vor allem zur repressiven Armutsbekämpfung eingesetzt wurden. Das ließ und lässt sich in einem modernen demokratischen und sozialen Rechtsstaat nicht mehr rechtfertigen. Ordnungs- und polizeirechtlich gibt es in den Kommunen die Möglichkeit, dass man Betteln an bestimmten Orten verbietet. Das hat dann aber nur im angewandten Polizeirecht oder im Verwaltungsrecht die Folge, dass in bestimmten Stadtbereichen der Platzverweis ergeht an den „Störer“, wie es im deutschen und österreichischen Recht heißt, mit dem Verweis, diesen Ort zu verlassen. Bei Zuwiderhandeln würde er dann eine Ordnungsstrafe kassieren.

Wie wirksam ist dieser Platzverweis?

In der Praxis ist es natürlich so: Wenn man den „Störer“ des Platzes verweist, geht er woanders hin, wo er sitzen darf, und kehrt danach gegebenenfalls wieder dahin zurück, wo er herkam. Rein normativ betrachtet, ist das Polizeirecht in Rechtsordnungen wie in Deutschland oder in Österreich der Bereich, in dem Bettelverbote polizeirechtlich geahndet werden können. Aber der Kontext ist dann keine Straftat, sondern eine Störung der öffentlichen Ordnung, auf die die Polizei reagieren kann. Die Städte und Kommunen können in der Tat solche Verordnungen erlassen.

In Luxemburg gibt es seit 2022 einen eingeschränkten Platzverweis, den CSV und DP nun ausweiten wollen. Wäre das eine Möglichkeit gegen Bettelnde vorzugehen?

Wenn man der politischen Überzeugung ist, dass Betteln eine Störung der öffentlichen Ordnung, vielleicht der öffentlichen Sicherheit ist, kann man das Polizeirecht dafür nutzen, mit Hilfe eines Platzverweises das Betteln verwaltungsrechtlich zu untersagen. Diese Rechtsnorm muss man natürlich ausgestalten. Ein solches Verbot ist an bestimmte Voraussetzungen geknüpft.

An welche?

Erstens muss die Störung definiert werden: Was ist Bettelei? Begriffe wie mendicité simple oder mendicité aggressive müssen legal definiert werden. Man kann die Polizei nicht mit einem vagen Begriff alleine lassen. Zweitens muss es verhältnismäßig sein. Es muss geeignet und erforderlich sein. Wenn man jemanden sieht, der mit seinem Pappbecher da sitzt, ist es dann verhältnismäßig mit einem Zweier-Polizeiaufgebot die Person des Platzes zu verweisen? Der Gesetzgeber oder die Exekutive müssen sowohl die Störung als auch die Eingriffsgrundlage präzise bestimmen.

Im Regierungsprogramm steht eigentlich nur, die Regierung wolle die „lutte contre la traite des êtres humains, notamment en matière de mendicité“ konsequent verfolgen. Was ist über diese mutmaßliche Form von Menschenhandel bekannt?

Von polizeilicher Seite gibt es für Frankreich und Deutschland kriminologische Studien darüber, wie Menschenhandel abläuft, wie er organisiert ist. Solche Strukturen sind inzwischen in der organisierten und in der Clan-Kriminalität angesiedelt. Es scheint erwiesen, dass man in der Tat Kinder, aber auch Frauen zum Betteln missbraucht.

Gibt es Studien darüber, wie verbreitet diese Form der Kriminalität in Luxemburg ist?

Wie groß das Ausmaß dieses Problems in Luxemburg ist, wäre erst einmal zu untersuchen, bevor man kriminalpolitische Mittel ergreift. Und dann treffen wir auf ein Problem der luxemburgischen Kriminalpolitik: Sie ist fast empirie- und statistikfrei. Es gibt keine verlässliche empirische Grundlage dafür, wie groß das Ausmaß und wie relevant das Problem ist, außer vielleicht durch eigene Anschauung und – das will ich gar nicht kleinreden – durch die Erfahrung von Kriminalbeamten, die damit zu tun haben. Das ersetzt aber keine rationale, empirische Grundlage für das Implementieren eines Bettelverbots oder den Kampf gegen Menschenhandel.

Ist ein Bettelverbot ein geeignetes Mittel, um gegen Menschenhandel vorzugehen?

Klares Nein! Damit bestraft man diejenigen, die ohnehin schon in diesen Strukturen die Verwundbarsten sind. Wenn ich den Menschenhandel bekämpfen will, muss ich andere Maßnahmen ergreifen: Zum einen eine Spezialisierung in der Strafverfolgung und die entsprechenden Ressourcen dafür bereitstellen, die die Hintergründe des Menschenhandels – ein typisches europäisches Delikt – in Zusammenarbeit mit anderen Strafverfolgungsbehörden gemeinsam angehen. Zum anderen hat der Menschenhandel in Luxemburg ja nichts mit der Bettelei zu tun, wie eine Studie der konsultativen Menschenrechtskommission vom vergangenen Jahr gezeigt hat. Menschenhandel existiert hier vor allem in missbräuchlichen Arbeitsverhältnissen in der Gastronomie und in der Prostitution. Und in diesen Bereichen erreichen Sie mit strafrechtlichen Bettelverboten erst einmal nichts, beziehungsweise hat die Bettelei mit diesen Strukturen des Menschenhandels nichts zu tun.

Mehrere qualitativ durchgeführte soziologische Studien zweifeln an, dass man beim Betteln überhaupt von Menschenhandel reden kann, sondern verweisen auf solidarische Familienverbunde, die gemeinsam ums Überleben kämpfen.

Wenn in einem Familienclan bestimmte Mitglieder – vor allem Kinder – zum Betteln gezwungen werden, sieht das Strafrecht längst Mittel vor. Diese reichen von der Nötigung bis hin zur Erpressung. Das Strafrecht, so wie es ist, hätte schon die repressiven Instrumente, um dagegen vorzugehen. Ein Bettelverbot braucht es dafür nicht. Einerseits ist es normativ nicht zu vertreten, andererseits ist die Wirksamkeit absolut nicht gegeben. Es ist weder ein geeignetes, noch ein verhältnismäßiges Mittel, um den Menschenhandel auch nur ansatzweise zu bekämpfen.

Neben dem Bettelverbot und der Ausdehnung des Platzverweises ist die comparution immédiate ein weiteres Element der von CSV und DP geplanten Strategie, um den Rechtsstaat repressiver zu gestalten. Welche Auswirkungen könnten beschleunigte Gerichtsverfahren haben?

Zur comparution immédiate ist bislang noch nichts Konkretes bekannt, deshalb lässt sich noch nicht viel tragfähiges dazu sagen. Allgemein kann man aber feststellen, dass dieses Institut sowohl in der normativen Ausgestaltung, als auch in der Rechtspraxis immer auf Kosten der Verteidigungsrechte geht. Die comparution immédiate in Frankreich oder das beschleunigte Verfahren in Deutschland ist ein Eingriff in die Rechte der Verteidigung, ein Verfahren sorgfältig vorzubereiten. Über die Ausgestaltung kann man im Detail diskutieren, aber diese Figur, die Idee als solche, ist zuerst einmal grundsätzlich nachteilig für die Grundrechte der Strafverteidigung und insofern auch für die Balance des Strafverfahrens. Hinsichtlich der égalité des armes zwischen Beschuldigten und ihren Strafverteidigern auf der einen und der Staatsanwaltschaft auf der anderen Seite verschieben sich dann die Gewichte.

Zu dieser repressiven Strategie gehört auch die Einführung einer police communale, zu der die Regierung bisher ebenfalls noch keine Details bekannt gegeben hat. Die Polizeigewerkschaft SNPGL befürchtet, dass es zu Kompetenzgerangel zwischen Bürgermeistern und Polizeidirektion kommen könnte. Wie lautet Ihre Einschätzung?

Als Strafrechtler und Kriminalpolitiker würde ich dazu anraten, Dinge erst einmal kohärent vorzubereiten, bevor man sie politisch ankündigt, damit man zumindest eine rational diskutierbare Grundlage hat. Ich sehe schon die Notwendigkeit, dass man die Polizei in Luxemburg reformiert, weil sie möglicherweise Strukturen hat, die vielleicht nicht mehr den modernen Herausforderungen entsprechen. Wobei man das Polizeirecht vielleicht auch präziser fassen muss, weil die Polizei in die Lage versetzt werden muss, ihren Kernaufgaben der Gefahrenabwehr nachzukommen. Im Hinblick auf die Stärkung dieser Institution gibt es in Luxemburg durchaus etwas zu tun.

Premierminister Luc Frieden begründete das Bettelverbot in einem Interview mit dem Tageblatt damit, „dass sich in den vergangenen zehn Jahren ein Problem erweitert hat, sodass viele Einwohner beispielsweise nicht mehr zum ‚Hamilius‘ gehen wollten, was sie in ihrem Sicherheitsempfinden und in ihrer Freiheit beschränkt“. Ist subjektives oder individuelles Sicherheitsempfinden ein Gradmesser für Freiheit? Und wenn ja, für wessen Freiheit?

Unabhängig von der politischen Couleur führt die Politik diese Form der subjektiven Sicherheit oft als Faktor an, um kriminalpolitische Maßnahmen zu begründen, weil sie glaubt, man könne mit Strafrecht und Bestrafung soziale Probleme lösen. Das kann man aber nicht, vor allem, wenn diese Probleme, wie in diesem Bereich, eindeutig sozial- und wirtschaftspolitisch, beziehungsweise kommunalpolitisch begründet sind.

Wie müsste man diese Probleme Ihrer Ansicht nach angehen?

Die strafrechtlichen Verbote der Bettelei in Deutschland im 19. Jahrhundert und auch in Luxemburg wurden damit begründet, dass man die Bettler und Obdachlosen dadurch besser in karitative Einrichtungen bringen kann. Der Kontext war ein karitativer, der natürlich mit dem falschen Mittel angegangen wurde, aber die Idee war damals schon, dass man das Problem wohlfahrtsstaatlich angeht. Auch heute ist es noch ein soziales Problem. Man kann es nicht damit begründen, dass Bettelnde das Stadtbild stören und die Leute deswegen weniger in Luxusboutiquen gehen. Deshalb muss man sich auf kommunaler und staatlicher Seite fragen, mit welchen präventions- und stadtpolitischen Maßnahmen man diesem Problem gerecht werden kann. Mit dem Strafrecht erreicht man hier gar nichts. Die ersten Versuche, dieses rechtswidrige Verbot der Stadt Luxemburg durchzusetzen, führten nur dazu, dass sich die Betroffenen in andere Bereiche des öffentlichen Raums zurückziehen - entweder in den öffentlichen Transport oder in die Stadtviertel, die von der Verordnung nicht erfasst sind. Das kann man ja nicht als nachhaltige Problemlösung bezeichnen. Die kann nur darin liegen, dass man den Menschen soziale Angebote macht und soziale Institutionen stärkt, die sich dieser Menschen annehmen.

Dahinter steht ja auch die Frage danach, wem der öffentliche Raum gehört.

Es gibt negative Beispiele der Segmentierung des öffentlichen Raumes. Sei es Zonen für gesellschaftliche Privilegierte, zu denen sozial Schwache keinen Zugang haben. Oder auch sogenannte no go areas, wo Staat und Gesellschaft sich zurückgezogen haben und das staatliche Gewaltmonopol nicht mehr greift. Das sollten wir in Europa tunlichst vermeiden. Es gibt ja genug Beispiele in den USA, in Südamerika und in anderen Kulturen, wo der öffentliche Raum völlig zersetzt worden ist durch private Interessen und sozialpolitische Verwerfung, die dazu geführt haben, dass es keine allgemeine Sicherheit mehr gibt. Aber Sicherheit lässt sich nicht vorrangig durch Zwangsmittel herstellen, sondern sie ist in allererster Linie eine Frage sozialer Sicherheit – keiner repressiven. Und die stiftet man durch vernünftige Politik und Präventionsmaßnahmen, durch eine Stärkung von Institutionen und Organisationen, die sich darum bemühen, dass der öffentliche Raum für alle ein lebenswerter ist.

Die Stater DP-Bürgermeisterin Lydie Polfer hat es neulich so dargestellt, als sei es eine Privatisierung des öffentlichen Raums, wenn Obdachlose sich auf öffentlichen Plätzen wie etwa dem Theaterplatz aufhalten.

Das ist ja eine verkehrte Welt. Die Politik hat die Verantwortung, den öffentlichen Raum lebenswert und zugänglich zu machen für alle. Und dazu gehört im Prinzip ein vernünftiges, inklusives sozialpolitisches Konzept. Dieses Konzept, bei dem man versucht, sich des Störenden zu entledigen, ist ein Konzept der Exklusion. Am Ende ist das nicht nachhaltig. Wir brauchen Maßnahmen – und das scheint ja erkannt –, die die sozialpolitische Kluft in der Gesellschaft überwinden. Die Verwerfungen auf dem Wohnungsmarkt sind so groß, dass mittlerweile „normale“ Menschen aus den unteren und mittleren Einkommensschichten riskieren, in Armut abzugleiten. Und das Problem der Bettelei, das wage ich mal zu behaupten, ist in allererster Linie das des Abgleitens in Armut aufgrund einer ausweglosen Arbeits- und Wohnungssituation. Es hat sich in den letzten Jahren in Luxemburg schrittweise entwickelt. Und man kann das jetzt nicht rückabwickeln über repressive Maßnahmen, sondern es bedarf einer gewissen Art von Kreativität, um sozial- und wirtschaftspolitisch so zu agieren, dass Armut bekämpft wird. Aber nicht indem man gegen die Armen vorgeht, sondern indem man soziale Schieflagen beseitigt. Diejenigen, die bereits obdachlos sind, bedürfen karitativer Zuwendung; Institutionen, die sich ihrer annehmen, um ihnen eine Perspektive zu geben.

Zur repressiven Strategie der Regierung gehört auch eine Ausdehnung der Videoüberwachung. In vielen Großstädten sind Kameras inzwischen Alltag. Muss man sich damit abfinden, überall gefilmt zu werden?

Bei der Videoüberwachung sind die Probleme vor allem im polizeilichen Bereich des verhältnismäßigen Datenschutzes gelagert. Ein weiteres Problem ist die Ausweitung. Wann ist die Grenze erreicht, wo der gesamte öffentliche Raum videoüberwacht ist und eben nicht nur an vermeintlichen neuralgischen Stellen wie Parks, Bahnhöfen, Flughäfen und der sogenannten kritischen Infrastruktur? Die Frage ist, wie flächendeckend öffentliche Videoüberwachung sein kann, bis für eine demokratische Gesellschaft die Schmerzgrenze erreicht ist. Es ist ein Unterschied, ob man genau weiß, wo und wie und wie lange man aufgezeichnet wird, oder ob man fürchten muss, dass das überall geschieht.

Vor dem Hintergrund dessen, was in Ungarn, Polen und Italien passiert, haben Sie bereits in anderen Beiträgen festgestellt, der europäische Rechtsstaat sei in einer Krise. Inwieweit lässt sich die Diskussion um das Bettelverbot und die repressive Sicherheitspolitik der luxemburgischen Regierung in diese Tendenz einreihen?

Es gibt schon seit längerem ein strukturelles Problem des demokratischen Rechtsstaats in Europa, weitaus gravierender als die Debatte, die wir gerade in Luxemburg führen. In Polen versucht man jetzt, die rechtsstaatswidrigen Justiz-Reformen wieder rückgängig zu machen, doch man sieht, wie schwierig das ist, wenn bestimmte Strukturen erst einmal geschaffen worden sind. Aber es ist nicht nur das. Es ist die Unabhängigkeit der Justiz, die in Frage steht, es ist die ganze Diskussion um die Migration. Europa hat bis zum letzten Migrationsgipfel im Prinzip in einem rechtsleeren Raum agiert, weil man den Rechtsrahmen, der unmittelbar gilt, nämlich die Dublin-Verordnung, schlichtweg ignoriert hat. Die Tendenz im Strafverfahren, seit einiger Zeit polizeiliche exekutive Befugnisse zu stärken und gleichzeitig Verteidigungsrechte zunehmend abzuschleifen, ist ein Problem, das in allen europäischen Ländern zu verzeichnen ist. Die Notstandsbefugnisse sind in vielen Staaten mittlerweile Teil des ordentlichen Rechts, so zum Beispiel in Frankreich. Auch da werden rechtsstaatliche Grundsätze, werden Verfahren und Prinzipien der Gesetzmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit abgeschwächt. Ja, der Rechtsstaat ist in einer Krise und die Politik reagiert darauf mit immer mehr Strafrechtsverschärfungen und Ermittlungsbefugnissen, statt sich präventions- und sozialpolitische Maßnahmen zu überlegen. Das Gegenmittel lautet: Kriminalpolitik mit Rationalität, Besonnenheit und Augenmaß.

Luc Laboulle
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