Die kleine Zeitzeugin

Masochismus für die ganze Familie!

d'Lëtzebuerger Land vom 02.02.2024

Der ESC ist ein Event für Masochist/innen. Ich muss es wissen, ich erleide ihn seit Jahrzehnten. Ich habe keine andere Erklärung. Oder Entschuldigung. Der schrille Schrott. Als würde man sich in verblendender Sonne glitzernde Glasscherben einverleiben. Als würden einer die Augäpfel aufgeschlitzt und die Birne aufgeweicht. Krachkreischdampfstampf. Behämmert belämmert umblitzt und verdonnert. Zu was? Wozu?

Und all das auch noch freiwillig, als mündige Bürgerin. Vollverantwortlich. Ohne Narkose. Außer hoffentlich mit dem Trost geistiger Getränke versehen, damit es nicht in nüchternem Zustand passiert. Nicht auch das noch.

Nach Sandy Shaw, die bloßfüßig tänzelnd die Pantoffel-Couchpotatoes aus ihrem Wirtschaftswundernickerchen aufschreckte, war bei mir Schluss. Euro-Vision, wie das damals noch so hoffnungsvoll hieß, das war dann nicht mehr verstandesgemäß. Jetzt war man Beatles und dann schon Stones, da knabberte man keine Salzstangen um baritönenden Herren in Hemdbrust und Damen in Rüschenmontur und mit gemeißelten Frisuren beim Hyperventilieren und Tirilieren zu assistieren.

Später, hinreichend verwachsen, gönnte ich mir die Freakshow, von Jahr zu Jahr wurde die Schauerlichkeitsdosis gesteigert. Ich begegnete ukrainischen Zottelwesen, finnischen He-Männern, bulgarischen Barden, russischen Babuschkas, polnischen Butterstampferinnen. Weißrussischen überweiten Oberweiten, Ex-Yugoslaw/innen, die einander nach blutigen Kriegen familiennostalgisch Punkte zuschoben. Lena, die ein Herzlein mit den Fingern formte und die Herzen im Sturm eroberte, aussterbenden Französ/innen und Engländer/innen und dann Deutschen. Die alte europäische Euro-Visionsfamilie schaute alt aus. Die Belgier verloren immer, obschon oder weil sie als Avantgarde gerühmt wurden. Ich begegnete Conchita aus Österreich mit ihrem allerliebsten Bart, Iren mit himmelschreienden Frisuren, schmachtenden Rumänen im aussterbenden Liebesduo und Siegerinnen in schneeumstöberten Käfigen. Ich begegnete Königinnen, Engeln, Ungeheuern, einer Unmenge hüpfender Jungs und sich windender Mädchen, einer verlockenden Auswahl an Geschlechtern. Ich begegnete Jury-Mitgliedern in allen möglichen Anzügen und Aufzügen, die ihre eigene Show ablieferten. Europa, zu dem plötzlich auch Australien gehörte, demonstrierte seine bunte Diversität, sogar Alte waren zugelassen.

Ich begegnete dem Schönen und dem Biest, immer mehr Schönen. Die Jungs wurden immer schöner. Es gab immer mehr Hautfarben, alle waren von überall. Dagegen hielten die wackeren Weißrussen und rustikalen Russen, sie schickten ganze Männer an die ESC- Front und v.a. Vollblutweiber. Bis andere Fronten kamen.

Ich vermisste Luxemburg, das dreißig Jahre lang beleidigt war, weil es verschmäht wurde. Ich hätte gern mitgezählt und mitgezittert, vielleicht sogar gewählt. National, nationalistisch? Wohl kaum, aber es hätte ein Röllchen gespielt, das doch. Leider verlieren meine Lieblinge immer. Einmal wählte ich, ein holländisches Pärchen. Sie wagten es, zu singen. Einfach so. Ein Lied! Ein Liebeslied! Einen richtigen Song, den man freiwillig hört. Nicht nur weil das Europäische Folterritual zelebriert wird.

Europäisch? Luxemburgisch? Konnte France Gall O Vreck? Udo Jürgens De Feierwon? Luxemburg kaufte sich seine Stars nicht nur beim Schifahren. Tali hat einen Pass und ging hier zur Schule, werden die beschwichtigt, die es gern mit Stallgeruch hätten. Wobei die junge Sängerin gerade dem Nation Branding von Luxemburg entspricht: offen, global, jung, multilingual. In der Welt zuhause, u.a. auch hier.

Als wäre der ESC nicht eben ein kapitalistisches Produkt, gleitfähig wie ein Burger, einem mehrheitsfähigen Einheitsbreigeschmack angepasst. Schon global, passt für alle. Da ist der Pass unerheblich. Hauptsache das Label passt, und die paar Klischeebilder die vor der Präsentation verpasst werden.

Und dennoch: der ESC lebt, denn er hat sein Geheimnis. Die pompöse Sperrigkeit. Der altmodische Special-Effects-Terror, das alles durchsickernde Kitschbombengift, die aufgeplusterte unausrottbare Hässlichkeit. Dieses Monsterspektakel. Dieses Spektakelmonster.

Michèle Thoma
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