Ehe es tatsächlich zum Krach zwischen Exekutive und Justiz kommen konnte, entschied die Regierung, zum Betteln doch den Code pénal zu ändern

Krise abgewendet

Innenminister Léon Gloden (CSV)
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 02.02.2024

„À partir de midi, les bruits et les cris des SDF étaient d’une particulière intensité. Ils buvaient de l’alccol et insultaient les passants“ (5.1.2016). „Je souhaiterais vous informer que des personnes campent la nuit sur la Place du Théâtre. Je suppose qu’un tel campement n’est pas toléré“ (5.4.2017). „It happened several times in the past weeks (and months) that adult men, most likely homeless, remove their pants and do their physical needs (urinate) just in the corner in front of a wall“ (10.5.2023). „En journée la récrudescence de mendicité dans les rues de la ville est impressionante, notamment par des gens étrangers qui sont parfois verbalement aggressifs“ (28.10.2019).

Das sind Auszüge aus 19 Beschwerden, die zwischen Januar 2016 und Juli 2023 bei der Stater Gemeindeverwaltung eingingen. Sie sind in dem Antrag auf Annulierung zitiert, den die Anwaltskanzlei Thewes & Reuter im Auftrag der Gemeinde am 14. August 2023 beim Verwaltungsgericht einreichte. Um die Entscheidung der damaligen LSAP-Innenministerin Taina Bofferding anzufechten, den neuen Artikel 42 in der kommunalen Polizeiverordnung nicht gutzuheißen, der zwischen 7 und 22 Uhr in bestimmten Stadtvierteln und Straßen das Betteln untersagt. Nicht nur Bürger/innen und Geschäftsleute hatten sich beklagt. Die Botschaft Italiens hoffte am 21. März 2021 „vivement que l’intervention de la Ville de Luxembourg, du Ministère de la Sécurité intérieure et de la Police Grand-Ducale puissent aider à résoudre les incidents dont la rue Goethe et les rues adjacentes sont victimes“. Das Außenministerium informierte die Gemeinde am 1. März 2021 über ähnliche Beschwerden der Botschaft Österreichs.

Den fast 50 Seiten langen Antrag ihrer Anwälte stellte die Stadt am Mittwoch ins Internet. Wer ihn liest, erhält den Eindruck, dass die Hauptstadt ein Problem mit der öffentlichen Ordnung hat – mit Ruhestörung und Verschmutzung, mit Drogenhandel und Obdachlosigkeit. Betteln wird in den 19 Beschwerden aus siebeneinhalb Jahren ebenfalls erwähnt. Aber nur sechs Mal in einer Beschreibung, die man „aggressives Betteln“ nennen könnte. Und nirgendwo ist die Rede von „déck däitsch Limousinne mat belsche Placken“, denen am Boulevard Royal Bettler entsteigen würden, die „organisiert“ sind. Dafür gebe es „Beweise“, betonte CSV-Innenminister Léon Gloden am 13. Dezember im 100,7, nachdem er am Tag zuvor die Entscheidung seiner Vorgängerin rückgängig gemacht hatte. In dem Antrag der Haupstadt ans Verwaltungsgericht, der durch Glodens Entscheidung gegenstandslos wurde und den der Stater Gemeinderat diesen Montag zurückzuziehen beschloss, stehen sie nicht.

Stattdessen hat die CSV-DP-Regierung, keine hundert Tage im Amt, es mit einem Problem zu tun, das so groß geworden ist, dass CSV-Premier Luc Frieden am Dienstag in der Abgeordnetenkammer beteuern musste, „eine Krise zwischen Exekutive und Justiz gibt es nicht und wird es unter dieser Regierung auch nicht geben.“ Auch der Präsident des Obersten Gerichtshofs wollte am Tag danach im 100,7 nicht von einer „institutionellen Krise“ sprechen. Doch Thierry Hoscheit ist „froh“, dass „die Zivilgesellschaft, das politische Spektrum und die Medien sich für dieses Thema interessieren und in dieser Debatte die Justiz, sagen wir es mal so, beschützen“. So geschehen nicht in Polen unter einer Regierung der nationalkonservativen Kaczynski-Partei. Sondern am Mittwoch in Luxemburg unter der Regierung des „neie Luc“.

Dabei ist überhaupt nicht klar, was genau die Polizei macht in der Stadt, in der sie seit dem 15. Januar präsenter ist und deren Aufgebot „weiter hochgefahren wird“, wie der Innenminister einen Tag später im Parlament erläuterte. Ihr Einsatz gelte „dem Drogenkampf, der illegalen Einwanderung, dem aggressiven Betteln und der Wiederherstellung der Sauberkeit“. Aber braucht es dazu den neuen Artikel in der Polizeiverordnung? Für Ruhe, Ordnung und Sauberkeit auf ihrem Territorium zu sorgen, ist jede Gemeinde ohnehin verpflichtet. So steht es in Artikel 50 des schon viel erwähnten Dekrets vom 14. Dezember 1789 über die Gemeiden, und das Gemeindegesetz erlegt dem Innenminister auf, darüber zu wachen, dass die Gemeinden das auch tun. Falls man die 19 Beschwerden von Bürgern und Geschäftsleuten wörtlich nehmen kann, dann hat die Hauptstadt in erster Linie ein Problem mit Obdachlosigkeit. Um Obdachlose aber „geht es nicht“ bei dem Polizeieinsatz, sagte Léon Gloden vor zwei Wochen in der Kammer. Vielleicht, weil sie vor allem ein soziales Problem ist?

Worum es vor allem geht, ist Law and Order als politischer Fetisch, den der Innenminister so gerne bedient wie Hauptstadt-Bürgermeisterin Lydie Polfer (DP). Die blau-schwarze Mehrheit in der Stadt ist Polfer darin ergeben. Wenn es Ansätze für eine institutionelle Krise gibt, dann kommen sie von Blau-Schwarz aus der Stadt. Im Gemeinderat ging es am Montag Abend hoch her zu der Frage, ob die „mendicité simple“ 2008 aus dem Strafgesetzbuch entfernt wurde oder nicht. Mittlerweile gibt es neun Gerichtsurteile dazu. Das in den Augen der Staatsanwaltschaft wichtigste fällte das Bezirksgericht Diekirch am 26. Oktober 2017. Es bestätigte in zweiter Instanz ein Urteil des Diekircher Polizeigerichts über einen Bettler, der in Ettelbrück Passanten belästigt hatte. Verurteilt wurde er nur der Belästigung wegen, nicht wegen Bettelns. Die mendicité simple sei nicht mehr strafbar. Interessant an dieser Entscheidung ist auch, dass in Ettelbrück 2016, als die Taten verübt wurden, die kommunale Polizeiverordnung die „mendicité“ generell untersagte. In den Augen der Richter spielte das keine Rolle: Die Verordnung sei konträr zum Code pénal.

Vielleicht regt dieses Urteil deshalb die Stater Koalition so auf: Am Montag im Gemeinderat fand CSV-Schöffe und Anwalt Laurent Mosar, „näischt géint Dikrech“, aber „Jurisprudenz“ könne nur „von einem Gerichtshof, am besten vom Verfassungsgericht“ kommen. Doch es dürften solche Bemerkungen sein, die der Präsident der Cour supérieure „ganz dramatisch“ findet, „wenn politisch Verantwortliche sagen, was diese [also vorgelagerte] Gerichte entschieden haben, interessiert uns nicht“.

Wie schmal der Grat geworden ist zwischen institutioneller Krise und politisch gemeinter Kommunikation, verdeutlicht auch, dass man sich fragen kann, was von der Aussage Luc Friedens am Dienstag im Parlament zu halten ist: „Die Regierung wird immer die Entscheidungen der höchsten Gerichte, des Verfassungsgerichts und des Kassationsgerichts, voll und ganz respektieren.“ Doch: „Meines Wissens gibt es keine Entscheidung des Verfassungsgerichts oder des Kassationsgerichts“ zum einfachen Betteln im Strafgesetz.

Vermutlich wollte der Premier damit nicht infrage stellen, was die Diekircher Richter vor sechs Jahren entschieden. Sondern zum Beispiel aufgreifen, was Generalstaatsanwältin Martine Solovieff Anfang der Woche angedeutet hatte: Würden in der Haupstadt Bettler von der Polizei protokolliert und gingen die Protokolle zur Staatsanwaltschaft, werde die „ihre Verantwortung übermehmen“. Käme es zu einem Prozess, könnte eine Vorabentscheidung des Verfassungserichts zur Stater Polizeiverordnung angefragt werden. Als politische Kuh wäre die mendicité simple dann vom Eis, konnte man verstehen, es wäre nur eine Frage der Zeit. Dass es dem Regierungschef recht sein würde, konnte man ebenfalls annehmen: Würde die Öffentlichkeit bald über andere Dinge zu diskutieren beginnen, wenn die Medien endlich darüber berichten, ließe die Angelegenheit sich aussitzen. Luc Frieden wusste schon am 11. Februar 2009 im Parlament, als er Justizminister war: „Et gëtt an enger fräier Gesellschaft net einfach fir Leit, déi just do sëtzen an heeschen, kënne vun där Plaz ewech ze kréien.“

Auch Lydie Polfer ist sich vielleicht weniger sicher als sie vorgibt, dass die Stater Polizeiverordnung mit dem Artikel 42 auf wirklich soliden Füßen steht. Im Gemeinderat vom 27. Januar 2020 hatte sie bemerkt, „le cadre légal existant ne permet pas à la Ville de prendre des mesures permettant d’améliorer vraiment la situation“, wie im Analytischen Bericht zu dieser Sitzung auf Seite 48 nachzulesen ist. Umso verständlicher, dass die von der Stadt beauftragte Anwaltskanzlei viel Aufwand trieb, um zu zeigen, dass die mendicité simple doch noch strafbar sei. Dass der Innenminister auf dieselbe Kanzlei zurückgriff, um sich zum Heescheverbuet beraten zu lassen, ist natürlich ungeschickt. Erstaunlicher ist, dass Léon Gloden den Avis juridique, der diesen Mittwoch unter Journalisten zirkulierte und aus dem RTL zuerst zitierte, erst am Mittwoch vergangener Woche in Auftrag gab – sechs Wochen nachdem er der Hauptstadt grünes Licht erteilt hatte.

Doch wie das mit latenten Krisen so ist, stieß eine Sitzung der Parlamentsauschüsse für Justiz und Inneres am gestrigen Nachmittag alles um: Die Justizministerin kündigte an, durch eine Gesetzesänderung den Gemeinden zu gestatten, das Betteln lokal beschränken zu können. National verboten werde es nicht. Das umzusetzen, wird vermutlich nicht leicht. Doch mit diesem Problem sitzt die Regierung nun kollektiv in einem Boot. Das Eingeständnis, sich geirrt zu haben bei der „Interpretation“ des Code pénal von 2008, ist auch ein kollektives. Die institutionelle Krise ist abgewendet, Léon Glodens Zukunft in der Exekutive gerettet.

Peter Feist
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