Robert Weis‘ Gedichtband A tiny nature: Recollections of poems and trees (2023) verbindet seine Auseinandersetzung mit der japanischen Miniatur-Gedichtform der Haikus mit Betrachtungen der Kulturform der Bonsais, japanischer Miniaturbäume. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Kritik bekommt es angesichts des vor Kurzem im Kino angelaufenen, beeindruckenden Films Perfect Days von Wim Wenders, der ebenfalls in Japan spielt (und sich auch mit Bäumen, dem Spiel des Lichts und Schatten im Blattwerk und der Beachtung der kleinen Dinge im Leben befasst), ein starkes symbolisches Kunstwerk an die Seite gestellt – was Parallelen und tiefgreifende Querverbindungen erlaubt.
Das französischsprachige Reisebuch von Robert Weis, Retour à Kyôto, das wie sein Gedichtband dieses Jahr erschienen ist, führt den Paläontologen und Schriftsteller mit starkem Interesse für Japan und die japanische Kultur zurück in dieses Land; auf eine Wanderung auf den Spuren des alten Pilgerweges Kumando Kodô. Nach dem Ende einer Beziehung erklärt der Ich-Erzähler diese Wanderung zu einer Suche nach sich selbst, die an Elizabeth Gilberts Weltbestseller Eat, Pray, Love erinnert:
„Toutes les certitudes sur lesquelles j’ai cru avoir construit ma vie se sont révelées éphèmeres. J’étais à la recherche d’une existence remplie de sens, et je naviguais à vue, dans une mer inconnue, à la recherche d’une île, un havre sûr qui me permettrait de me reconstruire. Il me fallait pour cela abandonner mes repères, quitter l’Europe et sa culture familière et me frotter à l’inconnu […].“
Sein Weg geleitet ihn über Nara und durch die ländlichen Bergregionen, von der neuen in die alte Hauptstadt, von Tokio nach Kyoto, wobei vor allem Kyoto im Fokus der Analyse steht: eine Stadt, die in der Spiritualität Japans eine zentrale Rolle spielt. Denn immerhin ist der Anlass für diese Wanderung und Reise auch ein spirituelles Anliegen.
Genau diese Sinnsuche prägt die Betrachtungen und Beschreibungen des Reisenden: seine Geisteshaltung und die Achtsamkeit, mit der er seine Umgebung und die Kultur auf sich wirken lässt oder aufnimmt; den Detailreichtum, mit dem er seine Erfahrungen und Beobachtungen beschreibt; seien es buddhistische Tempel, die ihn umgebende Natur oder Teehäuser. Geprägt von Shintoismus und Buddhismus, gibt er sich den sinnlichen Erfahrungen hin und lässt seinen Geist wandern, betrachtet insbesondere die Schönheit der kleinen Dinge und Gesten im Alltag. Minutiös, schwelgend und selig – so werden hier kleine und große Weisheiten gefunden oder erzählt.
Doch es ist nicht nur eine innere Reise, sondern auch eine tatsächliche Reise, die ebenfalls mit detailreichen Erklärungen kultureller Besonderheiten wie Gedichten oder Bonsais sowie architektonischen Besonderheiten in den Städten gestückt wird. Der Autor liefert zahlreiche historische Hintergründe oder untersucht geografische und botanische Besonderheiten entlang des Wanderwegs. So alterniert das Buch zwischen Reisebericht, Meditationen und schwärmerisch-bewundernden Betrachtungen der Umgebung und der Schilderung der persönlichen Erlebnisse und Empfindungen oder Begegnungen entlang des Wanderwegs.
Dass ausgerechnet Japan zum Schauplatz und zur Projektionsfläche für diese Suche nach sich selbst wird, ist von der starken Begeisterung des Erzählers und Autors für diese partikuläre, über Jahrhunderte weitergegebene traditionelle Kultur geprägt. Gleichzeitig zeichnet sich in seinen Betrachtungen oftmals ein Hang zum Fantasieren, Träumen und auch Exotisieren ab. Bei aller Kenntnis der japanischen Kultur und der symbolischen Bedeutung der kleinsten Gesten oder Details, werden diese zum Teil durch die verzauberten Augen des Erzählers magisch erhöht. Und so wirken manche der Beobachtungen über dieses Traumziel und die unglaubliche Sinnhaftigkeit der kleinsten Kleinigkeiten auch so, als würde hier jemand etwas sehen, weil er etwas sehen will. Die Gratwanderung an der Grenze zum Klischee ist heikel. Mit Sorgfalt und liebevoll erzählt, rettet der Abwechslungs- und Informationsreichtum des Berichts sowie die Aufrichtigkeit der erzählten Sinnsuche den Text oft vor der Oberflächlichkeit. Doch gelegentlich fragt man sich auch, ob hier nicht nur Träume, die jemand ohnehin hatte, bloß bestätigt werden sollen.
Und doch ist auch das ein Teil dieses besonderen Reisebuchs, das von einem in sich ruhenden Weg zu sich selbst zeugt und gleichzeitig vor Wissensreichtum strotzt: dass es oft einen Sinn und Erkenntnisse über den eigenen Platz in der Welt findet. Bei allem Schwärmen zeugt das Reisebuch von einem Wanderer, der zutiefst mit sich selbst im Reinen ist – und so das gefunden hat, was er allgemein und spezifisch hier, auf dem Weg in die alte Hauptstadt Japans, gesucht hat.