Es war einmal ein Cyber-Freak. Der verbrachte Nächte vor seinem Computer, aß nur das Nötigste, trank dafür hektoliterweise Kaffee und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Zu schlafen pflegte er auf einer gleich neben seinem Arbeitsplatz stehenden Klapp-Liege; natürlich zu äußerst unregelmäßigen Zeiten. Am Ende der Entbehrungen aber stand der Erfolg: unser Cyber-Freak hatte ein Produkt kreiert, das sich gut verkaufen ließ; und schon bald war aus dem passionierten Computerarbeiter ein reicher Mann geworden, der andere Cyber-Freaks für sich arbeiten ließ.
Rein äußerlich könnte man Smax Pletgen für einen solchen Freak halten: Mit langen Haaren und Vollbart, in Jeans und Sweatshirt sitzt er vor seinem PC und programmiert den Inhalt von World-Wide-Web-Seiten. Reichtum allerdings ist noch nicht in Sicht, der studierte Grafiker befindet sich im “Stage”; der Nationale Beschäftigungsplan (PAN) macht’s möglich. Auf vier Monate Ausbildung beim Centre de recherche publique - Henri Tudor folgte die Vermittlung zu jener kleinen Firma für Web-Design, für die Smax nun programmiert. Seit März schon. Smax hofft auf eine Festanstellung nach Ablauf seiner Praktikantenzeit. Er fühlt sich wohl im kreativen Chaos des am Rande von Luxemburg-Stadt gelegenen kleinen Betriebes. Dass er nur für den Mindestlohn arbeitet, stört ihn nicht: “Ich habe mein Metier gefunden. Und ich mache weiter.”
Cyber-Arbeiter sind Abenteurer. Sie müssen es sein, so lange sie noch nicht über eine Qualifikation verfügen, die ihnen eine auskömmliche Anstellung sichert. Sich so weit zu bilden, ist nicht das Einfachste. Die Branche sucht zwar händeringend nach Arbeitskräften, ist jedoch derart schnelllebig, dass einmal erworbenes Wissen und Können in der Regel nur eine Halbwertszeit von einem Jahr hat.
Für kleine Firmen ein entscheidender Aspekt: Quereinsteigern in den Multimedia-Bereich geben sie durchaus eine Chance. “Was man während eines Grafik- oder Informatikstudiums gelernt hat, ist nicht unbedingt das, was Multimediafirmen suchen", sagt François Altwies, Direktor von XYZ-Productions, einer Firma für Computeranimation. “Hinzu kommt: Je kleiner die Betriebe sind, desto vielfältiger sind die Anforderungen. Da reicht es nicht, nur grafische Fähigkeiten zu haben, da muss man auch programmieren können und ein Feeling für Marketing haben. Und redaktionelle Fähigkeiten sind auch nicht schlecht.”
Manche Quereinsteiger entpuppen sich als wahre Talente. Was um so wahrscheinlicher ist, da der Einstieg ins Gewerbe der Neuen Medien oft über zunächst schlecht oder gar nicht bezahlte Praktika führt. Wer sich auf so etwas einlässt, ist zumindest hoch motiviert. Und mitunter so begabt, dass er nach kurzer Zeit aus dem Training on the job heraus wächst und seinem Betrieb derart viel Geld einbringt, dass ein sechsstelliges Monatsgehalt herausspringt. Weniger Erfolgreichen bleibt am Ende die Erfahrung, ein prekäres Beschäftigungsverhältnis durchlebt zu haben. Die Grenzen sind fließend.
Mit den normalen Begriffen von Erwerbsarbeit ist der Multimediasektor nicht zu fassen. Kaum eine Wirtschaftsbranche war derart mit Erwartungen belegt; die Prophezeiungen einer regelrechten Flut aus neuen Arbeitsplätzen haben sich weltweit nicht erfüllt. Innerhalb der EU arbeiten laut Erhebungen des Statistischen Amtes der Europäischen Kommission nur 1,7 Prozent aller lohnabhängig Beschäftigten im Kommunikations-sektor; für Luxemburg liegen, so das Amt, verlässliche Angaben nicht vor.
In der Tat wurde im Großherzogtum erst Anfang dieses Jahres von der New Media Group des Centre de recherche publique - Henri Tudor (CRP - HT) die erste umfassende Marktanalyse veröffentlicht. Dass die Gründerzeit allmählich zu Ende geht, können Beobachter des Marktes im Moment nur nach Gefühl sagen. Ein Abflauen des Booms der Klein- und Kleinstfirmen für Web-Design, Internet-Werbung, Computeranimation oder Software-Produktion beaobachtet etwa Mike Koedinger, Herausgeber des Jahrbuchs New-Media-Guide.lu, des Who is who der Luxemburger Multimedia-Szene. “In den letzten zwei Jahren hat der Trend sich in Richtung Konzentration verschoben, es gibt Übernahmen und Fusionen. Auch die Preise für Dienstleistungen steigen.”
Guy Kerger, Leiter der New Media Group am CRP - HT, ist ebenfalls der Ansicht, dass die Branche sich konsolidiert. “Wobei noch immer mehr drin ist. Alle zurzeit existierenden Multimediafirmen haben gute Chancen, weiter zu kommen. Falls eine Firma einen Misserfolg erleidet, liegt es nicht am Markt.”
Schon eher am mangelnden Kapital und dem Fehlen qualifizierter Mitarbeiter. Doch empirische Daten, die eine realistische Einschätzung erlauben, inwiefern der Cyber-Aufschwung in Luxemburg zu wieviel und welchen neuen Arbeitsplätzen führt, gibt es kaum. Weder im Arbeitsministerium, noch bei der Administration de l’emploi (ADEM) wird der Stand der Dinge kontinuierlich verfolgt. Bei der ADEM weiß man lediglich: “Es werden ganz viele Leute gesucht.”
Erst einmal wurden bisher Arbeitslose im Rahmen einer Umschulungsmaßnahme für Multimedia qualifiziert. Qualif hieß sinnigerweise die vom CRP - Henri Tudor von Oktober 1998 bis zum Mai dieses Jahres organisaierte Weiterbildung. Nach einem vom Collège européen in Longwy entwickelten Modell wurden aus 13 arbeitslosen Akademikern aus den Sparten Grafik, Informatik oder Pädagogik innerhalb von sechs Monaten concepteurs-multimédia oder développeurs-multimédia. Inklusive eine drei- bis viermonatigen Praktikumszeit in einem Betrieb.
Hätte womöglich der Staat viel früher mit einer Aus- und Weiterbildungsoffensive reagieren müssen? Immerhin hatte Staats- und Medienminister Jean-Claude Juncker noch 1997 in seiner Rede zur Lage der Nation erklärt, Luxemburg solle zu einem international konkurrenzfähigen Multimedia-Standort werden.
Marco Sgreccia vom Service des Médias des Staatsministeriums relativiert: “Luxemburg steht mit diesem Mangel an qualifizierten Arbeitskräften nicht allein da, das ist ein europaweites Phänomen. Nur ein Drittel der Nachfrage kann derzeit gedeckt werden. Außerdem sind die Berufsbilder lange Zeit derart vage gewesen, dass sich erst jetzt allmählich klar wird, welche Art von Ausbildung überhaupt sinnvoll ist.”
Allerdings war Qualif ein beachtlicher Erfolg beschieden. Neun Teilnehmer der Umschulung wurden von ihren Praktikumsbetrieben prompt in eine Festanstellung übernommen, zwei weitere kurze Zeit nach Abschluss der Qualifizierung.
Auf Regierungsebene gibt es jedoch noch immer keine Koordination von Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen. Für den Multimediabereich ist das nicht anders, obwohl sich auch die neue CSV-DP-Koalition laut Regierungserklärung von Premier Juncker eine “Muskléierung” der Informationsindustrie zum Ziel gesetzt hat.
Die einzigen beiden neuen Initiativen zur Aus- und Weiterbildung kommen denn auch von unten, aus den Schulen selbst. Am Institut supérieur de technologie wird ab der nächsten Rentrée scolaire der Studiengang Ingénierie des systèmes d’information en nouveaux médias angeboten, eine Bac+4 - Ausbildung in Informatik, die eine Spezialisierung in so unterschiedlichen Multimedia-Gewerben wie Programmierer, 3D-Spezialist oder Projektleiter ermöglicht. Für Interessenten mit Vorkenntnissen soll auch ein auf zwei Jahre verkürztes Studium möglich sein.
Und auch am Lycée technique des Arts et Métiers ist ein Konzept entstanden, im Rahmen der Grafik-Ausbildung eine Spezialisierungsmöglichkeit zum Web-Designer anzubieten. Seit Oktober liegt das Projekt dem Unterrichtsministerium zur Begutachtung vor; grünes Licht von dort vorausgesetzt, könnte es im Februar 2000 anlaufen.
So dass sich ab 2002 der Mangel an qualifiziertem Multimedia-Personal hierzulande abschwächen könnte. Doch andererseits schöpfen die Luxemburger Betriebe schon längst auch aus den Reservoirs der Nachbarländer. Kein Wunder, angesichts von allein beinahe 4 000 Informatikstudenten, die zurzeit an den Universitäten in der Großregion eingeschrieben sind, mehr als die Hälfte davon im nahen Metz.
Und immer wieder sind die Frontaliers ihren Luxemburger Arbeitgebern äußerst willkommen. Die Anfang des Jahres von der New Media Group am CRP - HT herausgegebene Marktstudie kam nach einer Befragung unter rund 50 Multimediaunternehmen zu dem Schluss: “Les personnes interrogées se plaignent massivement du manque de motivation des jeunes luxembourgeois, de leur manque d’engouement pour les nouvelles technologies.”
Schuld daran sei die niedrige Arbeitslosenrate im Großherzogtum: “À la différence des autres pays européens, où la sensibilisation au chômage et la nécessité de développer des compétences en accord avec le marché est inculpée très tôt aux lycéens, les employeurs se plaignent ici que la plupart des jeunes ne ressentent pas ce besoin de s’investir dans leur emploi.”
Angesichts der vielen - auch Luxemburger - Quereinsteiger könnte diese Aussage heute schwerer zu verifizieren sein; möglicherweise wird die zweite Auflage der Marktstudie, die von der New Media Group gegenwärtig vorbereitet wird, neuen Aufschluss geben.
Wie auch immer – die abenteuerlustigste Multimedia-Novizin, die dem Land begegnete, war eine Französin aus Lothringen: Béatrice Luniaud, anfangs Sekretärin, später Ausbildung zur Krankenschwester und Arbeit in einem Hospital in Thion-ville. Vor zwei Jahren schmiss sie alles hin: Krankenhausarbeit, das war es nicht. Durch Freunde lernte sie eine der kleinen Luxemburger Multimedia-Firmen kennen, meldete sich zum “Stage”, biss sich durch und konnte bleiben. Seit Oktober 1998 ist die ehemalige Krankenschwester Assistante de production und betreut selbst Multimedia-Projekte. Ein kreatives Milieu unter lauter jungen Leuten, schwärmt die Französin, das sei es, was sie schon immer gesucht hat. “C’est génial.”
Wie es wohl weitergehen wird mit ihr? Béatrice Luniaud weiß es nicht. Doch das sei das Reizvolle an ihrem Job: die Bewegung, die Ungewissheit. Auch sie ist ein Cyber-Freak. Ihr gefällt die Freiheit, scheitern zu können. So entstehen postmoderne Biografien.
Philippe Descamps
Catégories: Internet, Politique de médias, Presse écrite
Édition: 02.12.1999