Vielleicht ist es das schöne Wetter oder die Aussicht auf die Ferien. Mehr als zwei Wochen nach Vorstellung des lang erwarteten Aktionsplans für den Sprachenunterricht ist die Stimmung unter den Lehrern noch immer weitgehend ruhig. Eine breite öffentliche Debatte ist bisher ausgeblieben. Die Gewerkschaften waren, neben den Autoren Charles Berg und Christiane Weis vom Centre d’études sur la situation des jeunes en Europe (Cesije) sowie den Mitgliedern der ministeriellen Arbeitsgruppe, die ersten, die das fast 90-seitige, in Buchform veröffentlichte Dokument zu lesen bekamen; eine offizielle Stellungnahme gibt es derzeit weder von SEW, Feduse oder Apess. Von den Sprachexperten der Universität hat sich offiziell bisher ebenfalls niemand zu den Vorschlägen zu einer Reform des Sprachenunterrichts geäußert, den die Ministerin Mady Delvaux-Stehres einmal als „eine Riesenbaustelle“ bezeichnet hat. Ruhe vor dem Sturm? Oder die ersten Erfolgsanzeichen einer neuen Kommunikationsstrategie der Regierung?
Der Aktionsplan ist der vorläufige Endpunkt einer Analyse des Sprachenunterrichts in Luxemburg nach einem Verfahren des Europarats. Nach einem Lagebericht des Cesije, den dieser auf der Grundlage von Sekundäranalysen von Texten zur Mehrsprachigkeit in Luxemburg und diversen Statistiken und Studien angefertigt hatte, war es im Juni 2005 an den Sprachexperten des Europarats, sich mittels eines Blitzbesuchs in Luxemburg und Gesprächen mit über 100 Praktikern aus Schule, Universität und Politik ein Bild von der komplexen Sprachensituation im Land zu machen (d’Land, 25. November 2005). Ihr Profil de la politique linguistique éducativedu Grand-Duché de Luxembourg von Februar 2006 bildete die Grundlage für die daran anschließende Arbeit des Ministeriums und der Cesije-Forscher. Die kritischen Bemerkungen und Änderungsvorschläge zum luxemburgischen Sprachenunterricht vom Straßburger Team um den französischen Berichterstatter Francis Goullier sollten in konkrete und kohärente Aktionen einer neuen Sprachenpolitik münden.
Mit erheblicher Verspätung (der Plan war für Herbst 2006 angekündigt worden) wurden nun vier große Handlungsbereiche ausgemacht: der kommunikative, der curriculare, der praktische und der reflexive. Ihnen sind insgesamt 66 Aktionen zugeordnet, die alle irgendwie zusammenhängen. Wie genau, das ist nur eine von vielen Fragen, die sich bei der Lektüre des Plans stellen.
Die Kommunikation: Dass die Beziehung zwischen Unterrichtsministerium und Lehrerschaft alles andere als rosig ist, hat das Ministerium erkannt („Il est douloureux de constater à quel point la communication entre le ministère et les enseignants se passe mal“, S. 27) – und daraus schon bei den Vorarbeiten zum Sprachenplan erste Konsequenzen gezogen. Der Konzertierungsprozess, den die Ministerin eingeschlagen hat, darf ohne Übertreibung wohl als bislang einmalig in der Geschichte der luxemburgischen Schulpolitik genannt werden. Statt von oben Maßnahmen zu dekretieren, hat die Ministerin die Lehrerschaft von Anfang an in den Beratungsprozess einbezogen. Um so die Weichen für einen möglichst breiten Konsens zu stellen. Den Lagebericht und das Sprachenprofil im Gepäck tourte die LSAP-Politikerin im Frühsommer vergangenen Jahres durch sämtliche Schulen des Landes. Alle Lehrer und Direktionen waren gebeten, ihre Fragen, Kritiken, Bedenken und Ideen vorzutragen und wurden eingeladen, in den Arbeitsgruppen mitzuarbeiten, die das Ministerium zu Themen wie Kompetenzen schon ins Leben gerufen hat oder noch wird.
Diese kooperative Herangehensweise will die Ministerin so weit wie möglich beibehalten. Zu den neun, die Kommunikation betreffenden Aktionen zählt ein „direktes Kommunikationsorgan“ zwischen Ministerium und Lehrern. Speziell an der Sprachenreform interessierte Lehrer sollen untereinander stärker vernetzt werden, eine Internetplattform soll helfen, Lehrer, Eltern und die interessierte Öffentlichkeit über weitere Schritte im Rahmen der Sprachenunterrichtsreformen auf dem Laufenden zu halten. Die Eltern werden den Plan ebenfalls präsentiert bekommen. Weiter als über die reine Information geht das Bedürfnis des Ministeriums nach Austausch und Diskussion mit den Eltern aber offensichtlich nicht.
Der Lehrplan: Die grobe Marschrichtung ist klar, die Einführung von so genannten Socles de compétences in allen Fächern, auch im Sprachunterricht, und für alle filières ist beschlossene Sache. Doch der Weg ist steinig und alles andere als präzise abgesteckt. Lehrer sollen Schülern nicht nur reine Fakten vermitteln, sondern „lebendiges Wissen“, das sie zum Lösen konkreter Probleme brauchen. Für den Sprachunterricht bedeutet das, zunächst die (Mindest-) Kompetenzen in den verschiedenen Sprachen und für die verschiedenen Jahrgangsstufen und Schulzweige zu bestimmen. Dafür braucht es im Vorfeld, wie in Aktion 11 beschrieben, eine „allgemeine Reflexion“, wie Sprache im Unterricht eingesetzt wird, wie man sie am besten erlernen kann – und zwar über den reinen Deutsch-, Englisch oder Französischunterricht hinaus.
Diese Reflexion steckt aber noch in den Kinderschuhen. In der Primärschule und für den Übergang in den unteren Zyklus des Sekundarunterrichts liegen vorläufige Vorschläge für Basiskompetenzen vor, die unter Lehrern aber nicht unumstritten sind (d’Land, 19. Januar 2007)). Die versuchsweise Einführung für 2007- 2008 scheint da recht ehrgeizig.
Die Praktiken: Auf die Kompetenzen aufbauend, soll ganz allmählich anders benotet werden, so zumindest hatte es Mady Delvaux-Stehres bei verschiedenen Pressekonferenzen und Vorträgen wiederholt angekündigt. Als Grundlage gilt der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen, der eine differenzierte Bewertung der unterschiedlichen Sprachkompetenzen (schreiben, sprechen, lesen, verstehen) erlaubt. In Aktion 40 werden Lehrer ausdrücklich aufgefordert, neue Bewertungsmethoden auszuprobieren.
Wie aber passt diese Aussage zur Aktion 42, wonach „la notation et la forme traditionnelle des bulletins seront maintenues“? Die Benotung ist eine der strittigsten Punkte der geplanten Sprachenreform. Noch ehe der Aktionsplan publiziert wurde, machte das Comité de l’association des professeurs de français du Luxembourg (APFL) in einem Forum-Artikel mit dem Titel "L’évaluation par compétences – les enjeux d’une vraie fausse révolution" gegen die Pläne der LSAP-Ministerin mobil. Sie befürchten eine „notation au pif“. „Faute d’y apporter des réponses claires, le MEN (ministère de l’éducation, d. Red.) cautionnerait une pseudo-évaluation qui, sous couvert de flexibilité et de différenciation, ne ferait qu’institutionnaliser un subjectivisme absolu“. Nun wird mit dem Ministerium darüber gerungen, wie die unterschiedlichen Kompetenzen gewichtet werden sollen – die APFL spricht sich für die Betonung des Schriftlichen gegenüber dem Mündlichen und dem Verstehen aus. Dass herkömmliche Noten alles andere als objektiv sind, ist in der Bildungsforschung allerdings längst erwiesen.
Bei einigen Luxemburger Lehrern wächst derweil das Bedürfnis, die 60 Punkte-Regelung grundsätzlich zu hinterfragen: Die Escher Ganztagschule und das Neie Lycée funktionieren beide nicht entlang herkömmlicher Zensuren, auch die geplante Laborschule auf dem Kirchberg wird bewusst darauf verzichten. Lehrer des Pilotprojekts im unteren Zyklus des technischen Sekundarunterrichts (Proci) waren von Anfang an unglücklich über das enge Korsett, welches das Notensystem ihnen auferlegt. Das Lycée technique Josy Barthel in Mamer hat den Notenkult am stärksten hinterfragt: Trotz Tests und Prüfungen werden bis zur zehnten Klasse keine Punkte mehr vergeben.
Die zögerliche ministerielle Vorgehensweise bei der Bewertung ist nur ein offensichtlicher Widerspruch zwischen bildungswissenschaftlicher Erkenntnis und politischer Praxis. Dass Englisch in Beruf und Gesellschaft immer wichtiger wird und seine Vermittlung an luxemburgischen Schulen gemessen an dem Zeitrahmen erstaunlich gut gelingt, bestätigen die Verantwortlichen des Aktionsplans. Ein Ende des Stiefkind-Daseins wird es in naher Zukunft dennoch nicht geben. Englisch aufwerten, indem man es ab der Siebten unterrichtet, sei deshalb nicht möglich, weil das „à un remaniement complet de la grille des horaires et à la surcharge inévitable des élèves“ führen würde. Verwirrend an dem Plan ist auch, dass oft nicht ersichtlich ist, welcher Punkt wann mit welcher Dringlichkeit umgesetzt werden soll. Das Unterrichten und Bewerten nach dem Europäischen Referenzrahmen, ein Kernstück der Sprachenreform, wird in einer Reihe mit einem neuen Preis aufgeführt, den Latein-Schüler für besondere Leistungen erhalten sollen. Da wird die Aufnahme von mehr Texten von luxemburgischen Autoren in die Programme für den Sprachunterricht im klassischen und im technischen Sekundarunterricht (ES, EST) erfordert und der Förderung lusophoner Literatur das Wort geredet – obwohl ein Ziel der Ministerin eigentlich lautete, die übervollen Programme zu entlasten. Das müsse man vor dem Hintergrund des kompetenzbasierten Unterrichts lesen. „Es sind nur Vorschläge“, rechtfertigt Cesije-Autor Charles Berg die gleichrangige Auflistung so gänzlich unterschiedlicher Maßnahmen.
Er ist sich sicher: „Der Plan stützt sich auf einen breiten Konsens.“ Ganz so breit ist er vielleicht dann aber doch nicht: Laut will es zwar keiner sagen, doch sogar im Ministerium gibt es hinter vorgehaltener Hand Kritik an der „Unübersichtlichkeit des Textes“. Bemerkenswert ist darüber hinaus, wie wenig Fokus die Autoren ausgerechnet auf jene Schüler legen, die unter dem jetzigen mehrsprachigen Schulsystem besonders schlecht wegkommen und welche die Ministerin eigentlich mit all ihren Reformen in den Fokus genommen haben will: die Schüler aus sozial benachteiligten Schichten. Auf Seite 62 heißt es unter „Les élèves issus d‘un milieu socio-économique moins favorisé“ neben einem Hinweis darauf, dass der Aktionsplan alle Schüler anvisiere: „Certaines (der Aktionen, die Red.) profiteront tout spécialement aux élèves d‘origine sociale moins favorisée, notamment le développement langagier au préscolaire et au premier cycler du primaire, le renforcement de l‘apprentissage de la lecture, les possibilités de différenciation à l‘enseignement postprimaire“. Wie diese aussehen können, darüber schweigt sich der Plan aber aus.
Auch die bilinguale Kommunikation, im Plan als ein Mittel beschrieben, um die „exclusion due aux compétences linguistiques“ zu verringern, wird recht oberflächlich behandelt. Das Ministerium betrachtet bilinguale Unterrichtsmaterialien als „punktuelle Hilfe“ (S. 43), eine Verallgemeinerung ist ausdrücklich nicht erwünscht.
Die Reflexivität: Vielleicht rächt sich an diesem Punkt, dass selbst unter einem sozialistisch geführten Unterrichtsministerium bestimmte Fragen von vornherein aus der Diskussion ausgeklammert waren: Eignet sich Luxemburgisch wirklich als Integrationssprache, wie dies die Autoren behaupten und wie das von der Politik seit einigen Jahren mit wachsender Vehemenz propagiert wird? Ist die Alphabetisierung auf Deutsch für romanophone Kinder wirklich ein guter Weg in die Mehrsprachigkeit oder müsste man nicht doch überlegen, ob getrennter Sprachenunterricht dem Ziel der Chancengleichheit womöglich besser dient, wie dies Jean-Jacques Weber in seinem Artikel "Rethinking Language-in-Education- Policy in Luxembourg" im Forum vorschlägt? Wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse darüber, wie der mehrfache Sprachenerwerb für sozial marginalisierte Schüler mit und ohne luxemburgischen Sprachhintergrund am erfolgreichsten organisiert werden kann, fehlen fast gänzlich, trotz er langen mehrsprachigen Bildungstradition.
In dieser Hinsicht ist der Aktionsplan ideologisch ebenso voreingenommen, wie es schon der nationale Sprachenbericht war. Die Mehrsprachigkeit und ihre besondere Organisation im Luxemburger Schulsystem werden nicht grundlegend in Frage gestellt, obwohl Cesije-Autorin Christiane Weis den Sprachenunterricht, „der einseitig auf die Bedürfnisse luxemburgischer Schüler zugeschnitten ist“, ebenfalls als Grundproblem des Bildungssystems benennt.
Man darf gespannt sein, was die Autoren damit meinen, wenn sie eine Debatte über die zukünftige Ausrichtung von Luxemburgs noch junger Bildungsforschung fordern, mit dem Argument, „ceci permettra d’éviter un scientisme excessif qui, en ne tenant pas compte de l’esprit pratique de l’action pédagogique, entraîne la négation du lien entre l’éducation d’un côté, et l’histoire et le politique de l’autre“. Einerseits wird im Text die Freiheit der Forschung beschworen, um sie dann an anderer Stelle fast schon wieder zurückzunehmen: „Il ne s’agit certainement pas de demander aux chercheurs de se poser en futurologues professant à quoi l’école de demain devrait ressembler ou de se substituer à l’acteur politique en imposant l’orientation que prendra la politique éducative du pays. (...) Ils doivent soutenir et accompagner, par leur recherche systématique et leur réflexion, le développement du potentiel de l’évolution durable de l’école d’aujourd’hui.“ Schreiben ausgerechnet Wissenschaftler anderen Wissenschaftlern ins Stammbuch.
Dazu passt übrigens, dass die großen Bildungsstudien wie Pisa oder Pirls noch immer nicht von (unabhängigen) Forschern gemacht werden, die es mit der neu entstandenen Uni zunehmend auch in Luxemburg gibt, sondern von der Politik. Nichtsdestotrotz kann sich Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres ein Verdienst jetzt schon anrechnen: Mit ihrem Plan hat sie es geschafft, die überfällige Diskussion umden mehrsprachigen Unterricht in Luxemburg entscheidend voranzutreiben und die nationaleBildungspolitik somit allmählich gegenüber internationalen Trends zu öffnen, sie zu modernisieren. Wie heiß das Eisen ist oder wie breit der Konsens, werden die kommenden Wochen und Monate zeigen. Nach den Französischlehrern haben die Deutschlehrer des Lycée classique de Diekirch vergangene Woche in einem im Tageblatt veröffentlichten Standpunkt zum Halali gegen die Sprachreformen der Ministerin geblasen.
Es klingt eher danach, als wäre es mit der Ruhe schon bald vorbei.